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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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sich seit dem Hellenismus grundsätzlich zwischen den Stadtstaaten und deren Bürgern zutrug. Von dem geschichtlichen Augenblick an, da das griechische Bewußtsein den Begriff des Individuums in den Mittelpunkt stellte und dessen Glück als höchstes Gut bestimmte, hat das Individuum allmählich die Beziehung zu jenen öffentlichen Angelegenheiten verloren, zu deren Sinn es unabdingbar gehört, fürs individuelle Glück Sorge zu tragen. Im Verlauf dieses Prozesses aber haben gerade die antiken Individuen sich angeschickt, Despotien und Diktaturen Gefolgschaft zu leisten, wofern man ihnen nur das prekäre Glück im Winkel einigermaßen ließ. Diese Entwicklung gilt keineswegs erst für die Zeiten der Stoa und des Epikur, sondern zeichnet sich schon in Aristoteles ab. Er hat mit einem gesunden Menschenverstand, der zuweilen an Denkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts gemahnt, der totalitären Staatsutopie seines Lehrers Platon die realen Bedürfnisse der einzelnen entgegengehalten. Aber er erblickt nicht mehr, wie es bei Platon trotz allem der Fall war, die höchste Idee in der Verwirklichung dieser Bedürfnisse durch vernünftige staatliche Einrichtungen. Sondern ihm gilt als das Höchste das Zurücktreten in die denkende Betrachtung. Darin ist schon die Resignation dem öffentlichen Wesen gegenüber angelegt. Es zeichnet sich ein tiefer Widerspruch im Verhältnis von Individuum und Staat ab: je unbeschränkter das Individuum dem je eigenen Interesse nachgeht, um so mehr verliert es eine Gestaltung der gesellschaftlichen Organisation aus dem Auge, in der diese Interessen geschützt sind. Das Individuum bereitet gleichsam durch seine fessellose Befreiung seiner eigenen Unterdrückung den Boden. Eine solche Entwicklung aber schlägt auch dem Individuum in seiner inneren Zusammensetzung nicht zum Guten an, sondern es verarmt und verkümmert immer mehr, je mehr es auf sich und seinen nächsten Umkreis sich beschränkt und ans Allgemeine vergißt. Nach Epikur, sagt Jacob Burckhardt, hat die griechische Welt keine weltgeschichtlichen Individuen mehr hervorgebracht. Vielleicht ist das übertrieben. Jedenfalls aber zeigt sich hier schon, daß Individuum und Staat nicht nur im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich wechselseitig bedingen. Der griechische Begriff des Individuums, der freilich vom modernen tief sich unterscheidet, ist unabhängig von der Form des antiken Stadtstaates überhaupt kaum zu denken.
    Die griechische Staatsmüdigkeit kann denn auch nicht ohne weiteres einem Erschlaffen der individuellen Kräfte zugeschrieben werden. Vielmehr entsprachen die kleinen griechischen Stadtstaaten, in denen etwas wie eine durchsichtige Einheit zwischen den Interessen der Individuen und denen des Gemeinwesens bestand, nicht länger dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung. Die materiellen Interessen der Individuen schienen besser gewahrt in weiter gespannten, zentral organisierten staatlichen Gebilden, auch wenn die Bürger diese nicht mehr wie das Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts kontrollieren konnten. Selbst in der Spätantike, als die Schicksale der großen Reiche sich über den Köpfen der Bevölkerung hinweg vollzogen, wurden während langer Zeiträume erhebliche Schichten gerade der städtischen bürgerlichen Kernbevölkerung von Ereignissen nur wenig berührt, die oft genug beschränkte Cliquen, militärische Juntas untereinander austrugen. Erst in der Völkerwanderung schlug die Entfremdung der Individuen von ihren Staaten ihnen leibhaftig zum Unheil an. Das Verhältnis von Staat und Individuum hat in der Antike noch nicht die tödliche Zuspitzung erfahren, von der wir gerade heute wissen. Denn die antike Gesellschaft war unvergleichlich viel weniger ›vergesellschaftet‹ als die moderne in all ihren Systemen. Heute hängen alle Funktionen mit allem zusammen, und alle staatspolitischen Entscheidungen berühren unmittelbar das individuelle Schicksal. Wenn demgegenüber die Rechtsordnungen dem Individuum mehr Schutz verheißen als in der Antike, so sind dafür die totalitären Regierungen beider Spielarten um so eifriger darauf bedacht, diese Rechtsordnungen zu kassieren und das Individuum schutzlos der Allmacht der Staatsapparatur auszuliefern. Diese auch nach der Niederwerfung Hitlers stets offene Möglichkeit, wie sie heute besonders in der Bedrohung durch den Osten uns zum Bewußtsein kommt, stellt die spezifische Form dar, in der wir an dem uralten Problem laborieren.
    So hat es denn mit der

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