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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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modernen Staatsfremdheit, allen Spenglerschen Analogien zum Trotz, eine ganz andere Bewandtnis als mit der antiken. Für die moderne ist verantwortlich nicht ein Mangel an sozialer Kohärenz, sondern gerade im Gegenteil deren Übermaß; ein Zustand, in dem der einzelne zur Gleichgültigkeit gegen das Staatswesen verführt wird, weil er das Gefühl hat, daß er über den objektiv bestimmten Lauf der Dinge doch nichts vermag. In Deutschland zumal ist das Verhältnis von Individuum und Staat tragisch getönt. Am Liberalismus in seiner klassischen Epoche, in der etwas wie Gleichgewicht zwischen dem Staatswesen und dem für die Epoche charakteristischen Typus des Individuums verwirklicht war, hat Deutschland nicht teilgehabt. Die Deutschen lebten unter einem Obrigkeitsstaat, der die Individuen nicht als seine Träger sondern als Gegenstände der Verwaltung auffaßte. Heute aber, da der von den Nationalsozialisten ins Wahnwitzige übersteigerte Obrigkeitsstaat gebrochen ist, scheint die herkömmliche Form der staatlichen Organisation selber, die ja vom Begriff der Nation nicht zu trennen ist, unzeitgemäß. Daher hat der Gedanke, den eigenen Staat zu bestimmen, längst nicht mehr jene die Massen bewegende Kraft, die er noch im 19. Jahrhundert ausübte. Die Individuen ahnen, bewußt oder dumpf, daß ihr Leben gar nicht wirklich von der Staatspolitik sondern von den gleichsam elementaren Vorgängen abhängt, die unterhalb der staatlichen Organisationsform im Kern der Gesellschaft selbst sich abspielen.
    Niemals hat das deutsche Volk sich als identisch mit dem eigenen Staat gewußt. Stets empfand man ihn als günstigenfalls wohlwollende, weit eher jedoch bedrohliche, Steuern eintreibende, Kriege veranstaltende, jedenfalls fremde Macht. Man hatte zwar in der Periode des industriellen Aufschwunges allerhand Vorteile, durchweg jedoch mehr an Negativem vom Staat zu gewärtigen, selbst wenn man nicht zu den Schichten gehörte, die mit der Staatsmacht in unmittelbarem Konflikt lebten. Vielleicht ist nirgends der Unterschied zwischen dem politischen Klima in Amerika und Deutschland sinnfälliger als an dieser Stelle. Denn der amerikanische Staat wird zwar von seinen Bürgern als gesellschaftliche Organisationsform, nirgends aber als eine über dem Leben der Individuen schwebende, ihnen befehlende oder gar absolute Autorität empfunden. Die Abwesenheit jener Sphäre des Offiziellen, die für die europäischen Staaten so charakteristisch ist, vor allem aber die Nicht-Existenz des Berufsbeamtentums und aller damit zusammenhängenden Vorstellungen gehören zu den nachdrücklichsten Erfahrungen, die der Einwanderer in Amerika macht. Das Fehlen eines jeglichen Staatsfetischismus in den angelsächsischen Ländern, vor allem aber eben in Amerika, macht das Verhältnis des Individuums zum Staat so viel leichter. Mögen auch dort wie überall große Teile der Bevölkerung dem Staat gleichgültig gegenüberstehen, so haben sie doch nicht das Gefühl, der Staat sei etwas anderes als sie selbst, etwas außer ihnen, ein Sein an sich, und habe ihnen herrisch zu gebieten. Diese Nuance schließt eine glücklichere Beziehung zwischen der obersten gesellschaftlichen Organisationsform und deren Bürgern ein.
    In Deutschland aber konnten die Massen zwar zuzeiten mit dem Staat sich identifizieren wie mit einem starken und tyrannischen Vater. Identisch aber waren sie niemals mit ihm. Eben das nie überwundene Bewußtsein der Fremdheit zum Staat hat dann zur verbissenen Übersteigerung des Staatsglaubens unter dem autoritären Regime geführt. Dabei wußte das Regime von der Staatsfremdheit des deutschen Volkes ebenso zu profitieren wie von dessen Bereitschaft, den Staat, um ihn nicht hassen zu müssen, zum Gott zu erheben. Nicht umsonst hat das Dritte Reich die gesamte Maschinerie des Staates und seiner Beamten durch eine der Partei und deren zu den Beamten in Gegensatz stehende Funktionäre verdoppelt. Damit sollte zugleich den Menschen das Gefühl der Staatsfremdheit genommen und ihre Unterordnung unter die Parteibürokratie, die ›dem Staat befahl‹, gefördert werden. Es wurde also die Staatsfremdheit zugleich real verstärkt und in der Ideologie verschleiert.
    Nach dem Zusammenbruch stellt das Verhältnis von Staat und Individuum vor Fragen, die durch wohlgemeinte Ratschläge und Ermahnungen, sich stärker an staatspolitischen Angelegenheiten zu beteiligen, nicht gemeistert werden können. Heute zeigt sich der Überdruß an der von der Tradition

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