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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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These der Hegelschen Phänomenologie, daß die dialektische Bewegung ebenso im Innern des Objekts wie im betrachtenden Bewußtsein stattfinde, übersetzen. Philosophische Bewegung heißt Beweglichkeit: sich nicht dumm machen lassen, sich nicht selbst verdummen. Heute wirkt die Denkkontrolle dahin, daß man mit der Miene der Verantwortung für jeden Satz die Spekulation sich verbietet und an eben der Stelle, an der sie fällig wäre, sich enger und beschränkter macht, als man es irgendwo in der empirischen Existenz wäre. Der philosophische Geist aber möchte, daß man noch in die Besinnung über die scheinbar speziellsten Gegenstände der Logik und Erkenntnistheorie all das an Kraft hineinwirft, was der lebendig Erfahrende jenseits der Arbeitsteilung weiß: in der Fähigkeit dazu beruht der unvergleichliche Rang Hegels wie Nietzsches, und wer sie sich verkümmern läßt, resigniert als Sachverständiger. Auch die philologische Treue bleibt bloßes Surrogat für jene Qualität. Die Frage nach der Wahrheit läßt sich nicht durch hermeneutische Vorbereitungen vertagen, wenn sie nicht vergessen werden soll. Der Philosophierende muß also nicht bloß der Philosophie alles vorgeben, sondern darf ihr doch wieder auch nichts vorgeben. Daß die unbedingte Aufgeschlossenheit des Gedankens mit der unbestechlichen Kraft des Urteils sich paare, schwang mit, als die Philosophen dem Geist die paradoxe Fähigkeit spontaner Rezeptivität zuschrieben.
    8. Unausrottbar scheint die Vorstellung, daß, da es nun einmal dem philosophischen Denken an eindeutigem und bündigem Fortschritt mangelt, wie ihn die Naturwissenschaften aufweisen, die Philosophie eine Musterkarte von Systemen präsentiere, deren jedes eine mehr oder minder einstimmige und befriedigende Welterklärung liefere, und aus der man sich das aussuchen könne, was dem eigenen geistigen Naturell am besten zusagt. Diese Vorstellung hat viel Schuld daran, daß die Philosophie zur neutralisierten, unverbindlichen Weltanschauung verkam. Die Spannung von Philosophie und Wissenschaft degeneriert zum Dispens von der Verpflichtung der Erkenntnis auf die Wahrheit; Philosophie soll sich dem je Erkennenden anpassen, der die Freiheit des Gedankens mit der Reservatssphäre unbekümmerten Drauflosdenkens verwechselt. Dies Verhalten der Philosophie gegenüber, das allein es ermöglichte, daß die nationalsozialistischen Pronunciamentos ihre Adepten fanden, ist relativistisch, auch wenn der Inhalt der jeweils bezogenen Standpunktsphilosophie absolutistisch ist. Aus kulturpolitischen Erwägungen für eine Philosophie mit Bindungen optieren, weil es heilsam sei, Bindungen zu haben, verstärkt eben den Subjektivismus, den der Entschlossene zu überwinden sich einbildet. Daß seit Kant, sicherlich seit Hegel, die Philosophen, die es waren, das Standpunktdenken nicht bloß verhöhnt, sondern seiner Beschränktheit und Einseitigkeit überführt, daß sie an der Geschichte der Philosophie die Einheit ihrer die einzelnen Systeme übersteigenden Probleme dargetan haben, prallt ohnmächtig von denen ab, die sich an etwas Handfestes halten wollen und sich nicht glücklich fühlen, wenn sie sich nicht in eine approbierte Schule einreihen können. Die neuerdings verstärkte Neigung zur Subsumtion alles Erscheinenden unter seinen Gattungsbegriff kommt dem entgegen; gern bestimmen sie sich selber als Exponenten einer bereits eingeschliffenen Parole und reden den erschütterten Jargon der Begegnung mit dem Nichts oder dem Sein. Das führt dann zu der im letzten Jahr ad nauseam wiedergekäuten Frage, ob Kant noch zeitgemäß sei, ob er uns, nämlich jenen, noch etwas zu sagen habe, als müßte er sich den intellektuellen Bedürfnissen einer vom Kino und den illustrierten Zeitungen präparierten Menschheit anpassen und als müßte nicht diese vielmehr erst einmal auf die ihnen aufgezwungenen lieben Gewohnheiten verzichten, ehe sie sich anmaßt, die Vitalität dessen zu begutachten, der den Traktat vom ewigen Frieden schrieb. Stets sind sie bereit zur Phrase ›von meinem Standpunkt aus‹. Indem diese konziliant die Möglichkeit eines anderen zugesteht, arrogiert sie zugleich unverschämt das Recht, jeglichen Unsinn vorzubringen, weil man nun einmal diesen Standpunkt habe und jeder auf dem seinen stehen dürfe: Parodie des liberalen Moments im Denken. Nicht mehr taugt der von geschäftigen Soziologen aus der Kunstgeschichte importierte Begriff des Denkstils. Er verlegt die geschichtliche Substanz Leibnizens

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