Gesammelte Werke
das nichts anderes, als daß man am besten einmal einen philosophischen Text sich aussucht, zu dem man sich hingezogen fühlt, und ihn liest, auch wenn man zunächst darin nicht alles versteht. Manches erklärt sich durch Insistenz. Wo man liebt, versteht man. Intelligenz ist kein abgespaltenes Vermögen der Seele, sondern verflochten mit dem, was einen bewegt, was man will. Die Kraft des Beharrens vor dem Gedanken geht weit hinaus über das, was die sogenannte Bildung beistellt. Wenn der amerikanische Soziologe Veblen auf die Frage, wie er alle möglichen fremden Sprachen erlernt habe, antwortete, er hätte ein jedes Wort solange angeblickt, bis ihm seine Bedeutung aufgeblitzt wäre, so ist das ein Modell philosophischen Verhaltens: durch Versenkung ins Einzelne den ganzen Gedanken zu verstehen und nicht bloß den einzelnen Begriff. Der Anfänger verschanzt seinen Widerstand oft hinter dem Vorwurf der Geheimsprache. Aber die Zahl der Termini, die in der Philosophie gewußt werden müssen, ist bescheiden, über die wichtigsten unterrichtet jedes Wörterbuch, und ihre spezifische Differenz entnimmt man einzig aus dem je zu lesenden Text. Wo aber die Insistenz nicht genügt, soll man lieber weiter lesen: meist erhellt sich das Dunkle dem Zurückblickenden. Überhaupt soll man sich vor statischen Vorstellungen vom Verstehen hüten. Philosophische Texte haben keine dinghaft fixierten Bedeutungen, sondern sind, darin den Kunstwerken ähnlich, Kraftfelder und prinzipiell unerschöpflich; je besser man sie kennt, desto mehr geben sie her, und das wiederholte Lesen ist unabdingbar. Wenn Nietzsche, der sich die klügsten Leser wünschte, zugleich Wert auf solche legte, die des Wiederkäuens fähig sind, so ist das nicht einer jener Widersprüche, welche die Pedanterie ihm anzukreiden pflegt, sondern trifft genau die Spannung, in der man Philosophie sich aneignen kann: die zwischen der hellsten Konzentration im Augenblick und der langwierigen und oftmals gar nicht so bewußten Übung.
4. Gar nicht schlimm ist es, wenn man etwas nicht versteht, und keiner braucht sich dessen zu schämen in einer Welt, die von innen und außen die Kräfte der Konzentration einspart und unterhöhlt, auf welche Philosophie, darin ein archaisches Handwerk, nun einmal verwiesen ist. Schlimm aber ist es, wenn man nicht merkt, daß man etwas nicht versteht. Gerade die Philosophie verführt dazu, durch den magischen Effekt der Worte das Verständnis zu ersetzen. Äußerste Wachsamkeit ist geboten: das nicht Verstandene muß man sich notieren, darüber nachdenken, danach fragen, anstatt wolkige Stellen für Offenbarungen des wahren Ideenhimmels zu halten. Gut ist es, dergleichen Passagen einmal ein paar Tage liegen zu lassen, zu vergessen und dann wieder vorzunehmen. Oftmals zog man sie gewaltsam ins eigene Assoziationsfeld und hat sich dadurch dem versperrt, was sie von sich aus sagen, während sie, frisch betrachtet, sich anders und nun durchsichtig erweisen. Bei Kant etwa kommen die Schwierigkeiten zuweilen aus der Architektonik und nicht aus der Sache; davon soll man sich dann nicht terrorisieren lassen, sondern sich an dem großen Gedankengang orientieren. Es gibt in der Philosophie nicht nur die Gefahr des Vagen, Unbestimmten, vom spezifischen Gedanken zu weit Distanzierten, sondern auch eine des Zu nah. Wer lernen will, indem er die Sache nochmals hervorbringt, muß der Strenge stets ein Moment der Liberalität beigesellen. Denn in der Philosophie ist alles wörtlich und doch nicht ganz wörtlich.
5. Ist es keine Schande, etwas nicht zu verstehen, soll man doch auch nicht stolz sein auf Unverständnis. Der Satz Lichtenbergs, daß, wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es einen hohlen Klang gibt, nicht immer das Buch die Schuld trage, gilt unverändert, während unterdessen die Neigung sich verbreitet hat, das, was man nicht versteht, für gerichtet zu halten. Kommunikation ist nicht ein Kriterium, sondern ein Thema der Philosophie. Begriffe wie die des Mystischen, der Intuition, der Irrationalität, wofern sie nicht das Unwahre, sondern bloß das Ungewohnte und Anstrengende abwerten, helfen nicht der Vernunft, sondern dem Obskurantismus, auch wenn sie auf ihre unbestechliche Wissenschaftlichkeit pochen. Aktuell sind die Formulierungen des alten Kant gegen die Popularphilosophie seiner Zeit, deren Erben sich heutzutage pharisäisch als Hüter der Redlichkeit und Besonnenheit aufspielen: »Die Buchmacherei ist kein unbedeutender
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