Gesammelte Werke
Verbrauch von Büchern, Musik, Bildern sei, ohne sich auch nur zu fragen, ob Kultur nicht gerade in jener Art Erfahrung, jener Art des unwillkürlichen Gedächtnisses bestehe, die sich der Übersetzung in Tatsachen und Zahlen versperrt – ob nicht, in anderen Worten, Kultur gerade das Gegenteil jener Denkprozesse darstelle, mit denen er sie zu untersuchen vorschlug. Mißverstehen Sie mich nicht so, als ob ich kulturkonservativ redete, etwa die angeblich organisch gewachsene Kultur gegen die technische Zivilisation ausspielte. Ich meine vielmehr, daß gerade die allzu prompte Anwendung technischer Methoden auf die Kultur der Kulturkritik im Wege steht. Jener Soziologe, der übrigens unterdessen seine Anschauung geändert haben dürfte, hat gerade dadurch, daß er Kultur mit geistigem Konsum gleichsetzte, sich dagegen blind gemacht, daß die Konsumentenkultur keine mehr ist, sondern daß gerade das Hinunterschlingen von best sellers, Filmen und Standardsymphonien die Beziehung zu den geistigen Gütern zerstört, die sie vorgeblich bekundet. Ein geistiges Gebilde erfahren heißt nicht es genießen, sondern es begreifen, und das heißt notwendig, es kritisch auffassen. Die blind akzeptierte, zum absoluten Wert gestempelte Kultur ist bereits die Barbarei.
Ein zweites Beispiel: ein deutscher Philosoph, der der sogenannten Existentialphilosophie Heideggers nahestand und drüben von gewissen Neigungen zur Scholle nicht ganz freizusprechen war, erklärte mir, er sei glücklich über den Zwang, englisch anstatt deutsch zu schreiben: er sei durch die neue Sprache genötigt, jeden Gedanken unvergleichlich viel klarer zu denken als früher. Ich will nicht entscheiden, ob in seinem besonderen Fall der Zwang wirklich heilsam war oder nicht. Aber ich weiß, daß die Begeisterung für die neue Sprache, die kein einziger von uns wirklich so zu schreiben vermag, wie wenigstens einige von uns deutsch schrieben, darauf hinausläuft, daß man um der Mitteilung und Verständlichkeit willen nicht nur alle Nuancen und Ausdrucksmomente des Gedankens preisgibt, in denen dessen Leben recht eigentlich besteht, sondern daß man auch die Sachen selber so vergröbert und verdinglicht, daß von ihrer Substanz nichts mehr übrigbleibt. Indem man sich vormacht, edler Einfalt und stiller Größe sich zu befleißigen und die europäische Gewundenheit und Verstiegenheit loszuwerden, bringt man es nicht etwa zur kristallklaren Formulierung seiner Ideen. Vielmehr zerschneidet man sie in kleine Bröckchen – selbst lange Sätze zu schreiben getraut man sich ja nicht mehr – und verrührt sie in einer allgemeinen Sauce der geistigen Verständigung. Das Eigene taugt dann gerade noch dazu, als Kennmarke der colorful personality einen von den Konkurrenten hinlänglich zu unterscheiden, denen man sonst in allem es gleichtut. Kein Gedanke ist unabhängig von der Form seiner Mitteilung: das anzunehmen setzt bereits eine Trennung von Sache und Erfahrung voraus, die von den verhängnisvollsten Tendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft herrührt und die dem Denken kritisch zu bezeichnen geziemt, anstatt daß es sich ihr stillschweigend unterwirft. Versucht man vollends, den Geist alsogleich praktisch zu wenden und einem jeglichen Gedanken die Anweisung beizugeben, was damit anzufangen sei, so macht man damit ohne weiteres den bestehenden Zustand sich zu eigen, in dessen Rahmen die Praxis sich abspielt. Aufgabe des Gedankens aber wäre es, diesen Zustand selber zu analysieren.
All das sind, wie ich nur zu deutlich weiß, recht formale Anzeigen. Es gibt auf die Fragen, die ich aufgeworfen habe, in Wahrheit keine andere Antwort als die ausgeführte philosophische Theorie selber. Diese ist in einem Diskussionsbeitrag nicht einmal anzudeuten. Lassen Sie mich statt dessen mit einem Gewaltstreich in vier Thesen zusammenfassen, was mich als Forderung an die intellektuelle Emigration rechtmäßig dünkt. Vorher möchte ich Ihnen noch zugestehen, daß die Gebärde des Forderns ebensosehr etwas Unangemessenes hat wie die bündige Thesenform, und möchte Sie bitten, die Unbescheidenheit des Ausdrucks mit der Schwierigkeit der Sache zu entschuldigen.
1. Der Denkende in der Emigration sollte sich nicht vormachen, ein neues Leben zu beginnen, sondern die Konsequenz aus dem vergangenen, aus seiner ganzen Erfahrung ziehen, die europäische Katastrophe und die Schwierigkeiten im neuen Lande inbegriffen. Wenn uns gepredigt wird, daß es einen transfer unserer europäischen
Weitere Kostenlose Bücher