Gesammelte Werke
Orthographie brachte mich darauf, daß es sich um etwas anderes handelte. Uromi war die Urgroßmutter. Man haue das idiomatische Omi, für Großmama, um eine Generation erweitert. Dabei geriet es ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame, beides gleich grausig und schwer voneinander zu unterscheiden. Das Wort, das Nähe bedeuten sollte, wurde zur Grimasse. Sie wollten standardisierte Intimitäten, denen allemal etwas Peinliches, Abstoßendes anhaftet, auch noch in die Schriftsprache versetzen, und behelligten die Öffentlichkeit damit, als wäre die verblichene Omi, weil ihre trauernden Hinterbliebenen wie Millionen die ihre nannten, die des ganzen Volkes. Die Wirkung überschlägt sich. Der infantile Kosename wird zur Maske von Unheil. Indem er Unmittelbarkeit vergebens beschwört, erstarrt er zum Fetisch. Die Formel für die Liebe, ihrem Sinn entfremdet und losgelassen wie eine Firmenabkürzung, entwürdigt schmählich die Tote. Der vergebliche Versuch, sie ins fragwürdige Leben der Familie zurückzurufen, verwandelt sie in ein Totes schon zu ihren Lebzeiten. Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum. Am trostlosesten aber: daß möglicherweise die subjektiv guten Willens waren, welche die Uromi in die Todesanzeige rückten. Der Geist einer kommunikativen Sprache, die, indem sie alle Distanzen herabsetzt, auch die Ehrfurcht vorm Tod verletzt, verleitet sie dazu, dort, wo sie, die Sprachfremden, ihr Gefühl mitteilen möchten durchs erste Beste, das ihnen in den Sinn kommt, jenes Gefühl zu beflecken. Weil die Sprache die Scham verlernt hat, versagt sie sich der Trauer.
1967
Traumprotokolle
Die Traumprotokolle, aus einem umfangreichen Bestand ausgewählt, sind authentisch. Ich habe sie jeweils gleich beim Erwachen niedergeschrieben und für die Publikation nur die empfindlichsten sprachlichen Mängel korrigiert.
T.W.A.
London 1937 (während der Arbeit am »Versuch über Wagner«)
Der Traum hatte einen Titel: ›Siegfrieds letztes Abenteuer‹, oder ›Siegfrieds letzter Tod‹. Er spielte auf einer außerordentlich großen Bühne, die eine Landschaft nicht sowohl darstellte, als vielmehr wirklich war: kleine Felsen und viel Vegetation, etwa wie im Hochgebirge unterhalb der Almen. Durch diese Bühnenlandschaft schritt Siegfried dem Hintergrund zu, von jemand begleitet, an den ich mich nicht mehr erinnern kann. Seine Kleidung war halb die mythische, halb modern, vielleicht wie auf einer Probe. Endlich fand er als Ziel seinen Widersacher, eine Gestalt im Reitkostüm: graugrüner Leinenanzug, Reithose und braune Schaftstiefel. Er begann mit diesem einen Kampf, der deutlich den Charakter von Spaß hatte und wesentlich darin bestand, daß er den Gegner, den er schon auf dem Boden liegend antraf, wie beim Ringen herumwälzte, worauf jener sich gern einzulassen schien. Bald gelang es Siegfried, ihn so hinzulegen, daß er mit beiden Schultern die Erde berührte und als besiegt sei's erklärt wurde, sei's sich erklärte. Unerwartet aber zog Siegfried aus seiner Jackentasche einen kleinen Dolch, den er darin wie einen Füllfederhalter mit einer kleinen Klammer trug. Er warf den Dolch aus nächster Nähe, wie im Spiel dem Gegner in die Brust. Dieser stöhnte laut, und es wurde offenbar, daß es eine Frau war. Sie lief rasch weg und erklärte, nun müsse sie allein in ihrem kleinen Häuschen sterben, das sei das Allerschwerste. Sie verschwand in einem Gebäude, das denen der Darmstädter Künstlerkolonie glich. Siegfried schickte ihr seinen Begleiter nach mit der Anweisung, ihre Schätze sich anzueignen. Da erschien Brünhilde im Hintergrund, in Gestalt der New Yorker Freiheitsstatue. Sie rief im Ton einer keifenden Ehefrau: »Ich möchte einen Ring haben, ich möchte einen schönen Ring haben, vergiß nicht, ihr den Ring abzunehmen.« So gewann Siegfried den Ring des Nibelungen.
New York, 30. Dezember 1940
Kurz vorm Erwachen: ich wohnte der Szene bei, die Baudelaires Gedicht »Don Juan aux Enfers« – wohl nach einem Bilde Delacroix' – festhält. Aber es war nicht stygische Nacht sondern heller Tag und ein amerikanisches Volksfest am Wasser. Dort stand ein großes weißes Schild – das einer Dampferstation – mit der grell roten Inschrift ›ALABAMT‹. Don Juans Barke hatte einen langen, schmalen Schornstein – ein ferry boat (»Ferry Boat Serenade«). Anders als bei Baudelaire verhielt der Held sich nicht schweigend. In seinem spanischen Kostüm – schwarz und violett –
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