Gesammelte Werke
zum Wunsch noch kommt, diesem kaum mehr möglich ist, über die Wiederholung des Immergleichen sich zu erheben. Er muß gar nicht mehr ausdrücklich verboten werden, weil er von der Funktion abziehe, die jeder im Getriebe des Bestehenden zu erfüllen hat: bereits die Regung des Ausbruchs ist zu schwach. Man braucht nur einen jener Farbfilme zu besuchen, die durch ihre Buntheit sich selber als Wunscherfüllung deklarieren, und man wird unter dem armen Flitter von Seeräuber- und Orientgeschichten alsogleich der Schemata des eingeschliffenen Lebens gewahr. Wer glaubte, davon ausgenommen zu sein, verfiele der eitlen Illusion. Das Ersehnte bleibt bloßes Reversbild des herrschenden Zustandes, matt, stumpf, kunstgewerblich. Alle Feste sind heute davon geschlagen. So ist denn den Befragten am letzten ein Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich nichts gewünscht, sondern sich über sich selbst, den Wunsch, die Verfassung der Welt gleichermaßen mokiert haben. Indem sie es verschmähen, den Traum zum Stilkleid zu erniedrigen, halten sie ihm bessere Treue, als wenn sie die Utopie als Freizeitgestaltung bejahten.
Sie sind nicht bloß aus Schwäche, aus der Schwäche aller heute Lebenden im Recht gewesen. Wenn oft Antworten ironisch darauf anspielen, daß man aus der eigenen Zeit sich gar nicht fortwünschen kann, so besagt das nicht nur die Trivialität, daß das Individuum trotz allem Wünschen an seine Zeit gekettet bleibt, sondern bekundet, daß es selber seiner inneren Zusammensetzung nach sie in sich enthält: daß die Imagination darum nichts darüber vermag, weil die Bilder des Wünschens selber aus der Zeit gespeist sind, der sie sich entgegensetzen. Der Begriff des Individuums, als bloßer Widerspruch zu seiner Zeit, ist abstrakt, Reflex des individualistischen Zeitalters, und das innervieren die Schriftsteller, auch wenn sie keinen Hegel studiert haben. Noch der Haß gegen die Zeit verdankt sich dieser. Die Abneigung gegen Wünschen stammt nicht daher, daß man es so herrlich weit gebracht hätte, und auch nicht daher allein, daß man nicht mehr recht zu wünschen vermag, sondern weist auf die Selbstbesinnung. Man argwöhnt, daß in der innersten Zelle der eigenen Individualität eben jene kollektiven Kräfte wirken, von denen das Ich im Glauben an seine Absolutheit sich emanzipieren möchte. Das neunzehnte Jahrhundert, das übrigens mit Recht in den Wunschzetteln nicht mehr mit der hämischen Verachtung genannt wird, deren man sich befleißigte, als die Eltern noch zu fürchten waren – dieses neunzehnte Jahrhundert hatte den Wunsch, sich selbst zu entrinnen, unbefangen nach außen projiziert. Was aber gleicht ihm mehr als die Ritterburgen und Renaissancepaläste, die es den Enkeln hinterließ? Scheut man sich, auch nur im Spaß und flüchtig nochmals die Fiktionen zu begehen, die da als Stil sich zu verewigen gedachten, so ist dafür nicht bloß der bessere Geschmack verantwortlich. Die Antwortenden wollen nicht den Traum zu früh ausplaudern und ihm damit etwas von der Macht der Verwirklichung entziehen, die ihm innewohnt. Untrennbar ist das Grauen dieser Jahre von der Möglichkeit der schrankenlosen Erfüllung. Nur um sie zu hintertreiben, hat man den äußersten Schrecken aufgehoben, und das wissen eigentlich alle. Wer aber den Wunsch in die Ferne wirft, ist der Defaitist des greifbar nahen Glücks. Man schämt sich der Utopie, weil es keine mehr zu sein brauchte. Die stoisch verbissene Schicksalsliebe, die auf dem Unabwendbaren besteht, verbindet sich mit der Ahnung, daß es einzig von uns abhängt, ob alles sich wende.
Zu solchen Perspektiven wollten nun freilich weder die Frage noch die Antworten verführen, und wer von ihnen redet, kann nicht umhin, sich das Schumannsche »Fast zu ernst« vorzuhalten. Mit Recht erinnern die Damen unter den Antwortenden ans Tanzen, dem die Umfrage verwandt ist. Nur sollte gerade, wer damit sympathisiert, aber sich nicht aufs Tanzen versteht, lieber darauf verzichten, als sich auf unbeholfene Sprünge einzulassen. Selten hat das Tanzen den Philosophen angestanden, und am schlechtesten denen, die eine Philosophie daraus machten. So mag man denn die schwerfällige Besinnung verzeihen und nicht von ihr das Fest sich verkümmern lassen, mit dem sie es gut meint.
1951
Uromi
In der Todesanzeige für eine sehr alte Dame las ich das Wort Uromi. Innehaltend, dachte ich zuerst, sie sei einer Krankheit, die so heißt, erlegen, einer Art Urämie. Die beschädigte
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