Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
Vom Netzwerk:
noch schlimmer sind als die Strafe, die die bloße Existenz der Geber ohnehin bedeutet.
     
    1932
     
     

Fast zu ernst
     
    Die Frage »Wann hätten Sie am liebsten gelebt?«, die von der »Neuen Zeitung« an einen Kreis literarischer Mitarbeiter gerichtet wurde, war als Silvesterscherz gedacht und verstanden, als eine Art geistiger Maskenball, der den Menschen die Narrheit des Wünschens freigibt, die sonst im erwachsenen Dasein verpönt ist. Flüchtig wird die Buntheit der Qualitäten beschworen, die in der entzauberten Welt für verloren gilt, und dabei freilich auch einiges vom Zustand der Menschen selber zutage gefördert, so wie nun einmal die zeitgenössische Psychologie lehrt, daß Tagträume, seien sie noch so sublimiert, etwas vom Unbewußten durchlassen. Das Ergebnis der Umfrage jedoch ist derart, daß es eine Besinnung provoziert, die dem Wunsch widerspricht, dem die Umfrage entsprang, und das Spiel verdirbt, wofür dann wiederum die Besinnung bei allen, den Fragenden und den Antwortenden, sich zu entschuldigen hat, oder auch vielleicht nicht zu entschuldigen, da ja die Mehrheit der Antwortenden selber beim Kostümfest nicht recht mitspielte und, anstatt in andere Zeiten und Stilepochen sich hineinzuwünschen, ihren Willen erklärte, das zu bleiben, was man ist. Solches Ergebnis überrascht in einem Augenblick, da das Sein zum Nichts, die Existenzangst und die Erwartung des Unterganges ähnliche Popularität erlangt haben, wie einmal das Bekenntnis zu Thron und Altar an Kaisers Geburtstag sie besaß. Sonderbar, daß Menschen, die das Grauen der Hitlerdiktatur und des Zweiten Krieges durchgemacht haben und nicht sicher sind, ob der dritte nicht bereits über ihren Köpfen sich zusammenzieht, trotzdem sich weigern, auch nur in der Phantasie aus dem Zustand herauszuspringen, in den sie, wie das Cliché des selbstzufriedenen Nihilismus ihnen versichert, geworfen sind, obwohl an dieser Weigerung selber eben die Erfahrung des Preisgegebenseins ihren Anteil hat.
    Allzu bequem wäre es, wenn man als Motiv einen Rückfall in jene Gewohnheit von Kaisers Geburtstag, die offizielle Bejahung des Daseins, das Je-Dennoch vermuten wollte, das womöglich noch ausgelaugter ist als der Heroismus um seiner selbst willen, und auf einen Optimismus schlösse, von dem bereits Nietzsche, der doch gegen einen Schopenhauer aufbegehrte, sagte, er gehöre samt seinem Gegenbegriff, dem des Pessimismus, weggefegt. Auch ließe das Ergebnis der Umfrage sich nicht gar zu rasch auf die Zeitstimmung, das allgemeine Bewußtsein ausdehnen. Die Befragten waren Intellektuelle. Sie alle haben gelernt, was einige offen aussprechen: daß sich Romantik unter gebildeten Leuten nicht gezieme. Sie alle sind mit den Spielregeln der Sachlichkeit aufgewachsen. Selbst wenn ihre Reaktionsform sich gegen die verwaltete Welt sträubt, so werden sie, wie Kadidja Wedekind im Spaß, im Ernst sich wohl hüten, durch das Zugeständnis ohnmächtiger Unzufriedenheit dem Verdacht sich auszusetzen, sie seien Weltverbesserer, einem Verdacht, der offenbar um so unerträglicher wird, je gründlicher die Welt der Verbesserung bedarf.
    Obwohl jedoch die befragte Gruppe ganz gewiß nicht das ist, was die empirische Sozialforschung einen repräsentativen Querschnitt nennt, führte die Befragung eines solchen kaum zu wesentlich anderen Ergebnissen. Nur will das nicht beweisen, daß die Menschen mit der Welt, die aus ihnen besteht, und über die sie so wenig zu vermögen glauben, zufrieden wären. Vielmehr: sie haben das Wünschen verlernt, und das ist vielleicht selber mit daran schuld, daß es so bleibt, wie es ist. Erschiene heute einem die Fee und gäbe ihm drei Wünsche frei, so geschähe das Unglück nicht mehr, indem er sich eine Bratwurst und dann diese an die Nase seines Eheweibes wünschte, sondern indem er die Fee für eine Interviewerin hielte, ihr entgegnete, weder hätte er Zeit, noch fiele er auf derlei Tricks herein, die Tür zuschlüge und seine Chance versäumte, ohne ihr auch nur die Lust der Verschwendung abzugewinnen. Gäbe es, an Stelle von Meditationen über das Sein des Menschen an sich, etwas wie eine konkrete Anthropologie des Zeitalters, so wäre nicht der letzte unter ihren diagnostischen Befunden die Erkrankung der Phantasie. Der Zwang zur Anpassung ans übermächtig Gegebene ist derart angewachsen, das Bewußtsein selber wird zu solchem Maße von den gesellschaftlichen Mechanismen vorgeformt, gemodelt und manipuliert, daß es, selbst wenn es

Weitere Kostenlose Bücher