Gesammelte Werke 6
den Mund …«
Scheppernd schloss sich die Metalltür des Aufzugschachts. Ohne mich anzusehen, drückte Edik auf den Knopf mit der Nummer sechsundsiebzig. Die Kabinentür schob sich automatisch zu, grell leuchtete der Schriftzug »Nicht rauchen! Anschnallen!« auf, und die Fahrt begann.
Anfangs schob sich die Kabine eher lustlos, ja faul voran; man merkte, dass sie eigentlich nirgendwo hinwollte. Langsam versanken die vertrauten Korridore unter uns, die traurigen Gesichter unserer Freunde, die selbstgemachten Transparente mit den Aufschriften »Bravo!« und »Ihr bleibt unvergessen!«. Im zwölften Geschoss winkte man uns zum letzten Mal mit Taschentüchern Lebewohl, dann betrat die Kabine unerforschtes Gebiet. Leere, offenbar unbewohnte Räume erschienen und verschwanden wieder, das Ruckeln ließ spürbar nach; die Kabine schien im Fahren einzuschlafen und blieb im sechzehnten Geschoss sogar ganz stehen. Wir hatten es gerade geschafft, ein paar Sätze mit bewaffneten Männern auszutauschen – Mitarbeiter der Abteilung für Verwunschene Schätze, wie sich herausstellte –, als sich die Kabine plötzlich aufbäumte und mit eisernem Wiehern in einen wilden Galopp überging, dem Zenit entgegen. Lämpchen blinken auf, Schalter klickten. Ein furchtbarer Beschleunigungsdruck presste uns zu Boden. Um uns auf den Beinen zu halten, klammerten sich Edik und ich aneinander fest. In den Spiegeln sahen wir unsere vor Anstrengung schweißnassen Gesichter. Wir rechneten schon mit dem Schlimmsten, als der Galopp plötzlich wieder in einen leichten Trab überging, die Schwerkraft auf anderthalb g zurückfuhr, sodass wir wieder Mut fassten. Mit pfeifenden Schläuchen landete die Kabine im siebenundfünfzigsten Geschoss und hielt erneut an. Die Tür öffnete sich, ein schwerer, älterer Herr mit einem Akkordeon vor dem Bauch trat ein, sagte lässig: »Allgemeinen Gruß!«, und drückte auf den Knopf des dreiundsechzigsten Geschosses. Als sich die Kabine in Bewegung setzte, lehnte er sich an die Wand, blickte verträumt nach oben und begann leise das alte Revolutionslied »Ziegelsteinchen« zu spielen.
»Von unten?«, erkundigte er sich träge, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
»Ja«, antworteten wir.
»Ist Steinbeißer noch im Dienst?«
»Das ist er.«
»Grüßt ihn schön«, sagte der Unbekannte und achtete nicht weiter auf uns. Während die Kabine ohne Hast, im Takt der »Ziegelsteinchen« ruckelnd, immer weiter hinauffuhr, studierten Edik und ich schüchtern die in eine Kupfertafel eingravierten »Nutzungsvorschriften«.
Wir erfuhren, dass es verboten war: für Fledermäuse, Vampire und Flughörnchen, sich in der Kabine anzusiedeln; im Falle eines Kabinenhalts zwischen den Geschossen durch die Wände hindurch auszusteigen; in der Kabine brennbare und explosive Stoffe, von Dschinns bewohnte Gefäße oder Ifrits ohne feuerfeste Maulkörbe mitzuführen; für Hausgeister und Blutsauger, den Aufzug ohne Begleitpersonen zu nutzen … Desgleichen war es jedermann verboten, irgendwelche Streiche zu spielen, zu schlafen oder in der Kabine auf und ab zu springen. Bis ans Ende kamen wir nicht. Die Kabine hielt erneut an, der Unbekannte trat hinaus, und Edik drückte wieder auf den Knopf mit der sechsundsiebzig. Im gleichen Augenblick schoss die Kabine so schnell nach oben, das uns schwarz vor Augen wurde. Als wir wieder zur Besinnung kamen, stand die Kabine still, und die Tür war offen. Wir hatten das sechsundsiebzigste Geschoss erreicht.
Einen Augenblick lang sahen wir uns an, dann traten wir hinaus. Wie weiße Parlamentärsfahnen hielten wir unsere Anträge in die Höhe. Ich weiß nicht, was wir erwartet hatten. Wohl eher etwas Schlechtes.
Doch es passierte nichts weiter. Wir betraten einen runden, leeren und sehr staubigen Raum mit einer niedrigen grauen Decke. In der Mitte ragte ein weißer, ins Parkett eingewachsener Findling auf wie eine Höckersperre. Alte, vergilbte Knochen lagen chaotisch ringsherum. Es roch nach Mäusen, das Licht war schummrig. Plötzlich knallte die Schachttür hinter uns zu, wir zuckten zusammen, drehten uns um, erhaschten aber nur noch einen Blick auf das Dach der nach unten rasenden Kabine. Ein unheilvolles Heulen lief durch den Raum, wurde schwächer und verhallte. Wir saßen in der Falle.
Augenblicklich verspürte ich das unwiderstehliche Verlangen umzukehren, nach unten, doch der verlorene Ausdruck, der über Ediks Gesicht huschte, verlieh mir neue Kraft. Ich schob den Unterkiefer vor,
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