Gesammelte Werke 6
verständnisvoll an.
»Es waren nicht ihre Fragen«, seufzte Viktor. »Ehrlich ge sagt, hat mich am meisten erstaunt, dass sie sich wie Erwach sene verhalten. Und nicht bloß wie Erwachsene, sondern wie hochentwickelte Erwachsene. Ein krasses, fast krankhaftes Missverhältnis …« Pavor nickte verständnisvoll. »Mit einem Wort, ich hatte dort nichts zu lachen«, gab Viktor zu. »Ich mag gar nicht mehr daran denken.«
»Verstehe. Sie sind nicht der Erste und nicht der Letzte, dem es so geht. Nebenbei bemerkt, sind die Eltern eines zwölfjährigen Kindes immer bedauernswerte, von Sorgen geplagte Wesen. Aber die hiesigen Eltern sind ein besonderer Fall: Mit ihnen assoziiere ich das Hinterland einer Besatzungsarmee in einem Gebiet mit aktiver Partisanentätigkeit … Wonach haben sie Sie nun gefragt?«
»Zum Beispiel wollten sie von mir wissen, was Fortschritt ist.«
»Aha. Und was ist das ihrer Meinung nach?«
»Ihrer Meinung nach ist Fortschritt etwas ganz Simples. Sie brauchen uns nur in Reservate zu treiben, damit wir ihnen nicht im Wege stehen und sie ungestört ihren Sursmansor und ihren Spengler studieren können. Das ist jedenfalls mein Eindruck.«
»Durchaus möglich«, meinte Pavor. »Wie der Herr, so ’s Gescherr. Da reden Sie von Akzeleration und von Sursmansor … Aber wissen Sie, was die Nation dazu sagt?«
»Wer?«
»Die Nation! Sie sagt, an allem sind die Nässlinge schuld. Ihretwegen verlieren unsere Kinder den Verstand.«
»Das kommt bloß, weil’s in der Stadt keine Juden gibt«, stellte Viktor fest. Dann erinnerte er sich, wie der Nässling in die Aula gekommen war, die Kinder aufgestanden waren und was für ein Gesicht Irma dabei gemacht hatte. »Ist das Ihr Ernst?«, wollte er wissen.
»Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, erklärte Pavor. »Das ist die Stimme der Nation. Vox populi. Die Katzen haben die Stadt verlassen, die Kinder aber vergöttern die Nässlinge, gehen im Leprosorium ein und aus, hocken Tag und Nacht bei den Nässlingen, machen, was sie wollen, und gehorchen nicht mehr. Sie stehlen ihren Eltern Geld und kaufen sich Bücher. Wie es heißt, waren die Eltern anfangs froh, dass die Kinder nicht mehr auf Zäunen herumkletterten und sich die Hosen zerrissen, sondern brav zu Hause saßen und Bücher lasen. Zumal das Wetter hier so schlecht ist. Aber mittlerweile sehen alle, wohin das führt und wer es angestiftet hat. Und nun freut sich keiner mehr. Vor den Nässlingen hatten sie schon immer Angst und schimpfen daher bloß hinter ihrem Rücken …«
Die Stimme der Nation, dachte Viktor. Die Stimme Lolas und des Herrn Bürgermeisters. Diese Stimme kennen wir … Katzen, Regen, Fernseher. Das Blut von Christenkindern …
»Ich versteh nicht recht«, sagte er. »Sagen Sie das im Ernst oder nur aus Langeweile?«
»Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen!«, wiederholte Pavor eindringlich. »Das ist die Meinung hier in der Stadt.«
»Welche Meinung in der Stadt herrscht, weiß ich«, sagte Viktor. »Aber was halten Sie davon?«
Pavor zuckte die Achseln.
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte er nebulös. »Halb Geschwätz, halb Wahrheit.« Er blickte Viktor über sein Taschentuch hinweg an. »Halten Sie mich nicht für einen Dummkopf«, fuhr er fort. »Denken Sie lieber an die Kinder: Haben Sie solche schon einmal gesehen? Das heißt: so viele auf einmal?«
Ja, dachte Viktor, die Kinder … Katzen hin, Katzen her, aber dieser Nässling in der Aula ist etwas, was man ernster nehmen sollte als die Katzen und den Regen zusammen … Es gibt Gesichter, die von innen her leuchten, und so ein Gesicht hatte Irma. Spricht sie mit mir, leuchtet ihr Gesicht nur von außen. Mit ihrer Mutter spricht sie gar nicht – da stößt sie nur angewidert und herablassend etwas zwischen den Zähnen hervor. Wenn es wirklich so ist, wenn das alles keine üble Nachrede, sondern die Wahrheit ist, dann stimmt was nicht mit den Nässlingen. Was wollen sie von den Kindern? Diese Menschen sind doch unheilbar krank. Und überhaupt ist es eine Schweinerei, die Kinder gegen ihre Eltern aufzuhetzen, sogar gegen solche wie Lola und mich. Es reicht schon, dass der Herr Präsident ihnen einredet: Liebt die Nation mehr als eure Eltern, die Freiheitslegion ist euch Vater und Mutter zugleich. Und schon marschiert so ein Knirps zum nächsten Stab und meldet, dass sein Vater den Herrn Präsidenten als komische Figur und seine Mutter die Feldzüge der Legion als verheerendes Unternehmen bezeichnet hat. Nun
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