Gesammelte Werke 6
natürlich zu dem Schluss gelangt, dass sie eine neue Welt aufbauen müssen. Und nicht alle sind so. Sie haben ihre Anführer und Sprecher: Bol-Kunaz, der Picklige und das hübsche Mädchen. Das sind die führenden Köpfe. Die Übrigen sind ganz normale Kinder – sie haben dagesessen, zugehört und sich gelangweilt … Er wusste, dass das nicht stimmte. Na schön, dann haben sie sich eben nicht gelangweilt, sondern interessiert zugehört – wir sind hier schließlich in der Provinz, und ich bin ein bekannter Schriftsteller … Ich hätte in ihrem Alter bestimmt keins von meinen Büchern gelesen; ich wäre lieber in einen Abenteuerfilm oder einen Wanderzirkus gegangen, um die Schenkel der Seiltänzerin zu bewundern. Ich hätte mich weder um die alte noch um die neue Welt geschert, ja mir überhaupt keinen Begriff davon gemacht. Für mich gab es nur Fußball, bis zur Erschöpfung, oder ich drehte irgendwo eine Glühlampe heraus und knallte sie gegen die Wand, lauerte einem Laffen auf und polierte ihm die Fresse … Viktor lehnte sich im Sessel zurück und streckte die Beine aus. Wir alle denken gerührt an unsere glückliche Kindheit zurück und glauben, dass sie schon seit Tom Sawyer so war, ist und immer so bleiben wird. So hat es nun mal zu sein. Und wenn es anders läuft, ist das Kind nicht normal, weckt, mit Abstand betrachtet, leises Mitleid und bei unmittelbarer Konfrontation pädagogischen Unmut. Das Kind aber sieht dich sanftmütig an und denkt: Ja, du bist erwachsen, stark und kannst mich verprügeln, aber du bist nun mal dumm geboren, hast nichts dazugelernt und wirst dumm sterben. Doch das genügt dir nicht: Du willst, dass ich ein Dummkopf werde wie du …
Viktor schenkte sich noch einen Gin ein, erinnerte sich an alles, was gewesen war, und musste hastig einen Schluck nehmen, um nicht vor Scham loszuheulen. Wie er sich diesen Kindern selbstgefällig und von oben herab – wie ein richtiger Lackaffe – präsentiert hatte, wie er ihnen mit Plattitüden, Gemeinplätzen und falschen »kindlichen« Tönen gekommen war, und wie sie ihn hatten abblitzen lassen. Trotzdem hatte er keine Ruhe gegeben und weiter schlimmstes intellektuelles Unvermögen demonstriert. Auch als sie ihm wohlmeinend den rechten Weg wiesen, ihn gar warnten, hatte er weiterhin nur leeres Stroh gedroschen und gemeint, er werde die Sache schon deichseln. Und als sie schließlich die Geduld mit ihm verloren und ihm eins aufs Maul gegeben hatten, war er in Tränen ausgebrochen und hatte sich über die schlechte Behandlung beklagt. Am Ende hatten sie ihn aus Mitleid um ein Autogramm gebeten, und er war in schmachvollen Jubel ausgebrochen … Viktor stöhnte auf, als ihm klarwurde, dass er trotz aller zur Schau getragenen Ehrlichkeit niemals den Mut aufbringen würde, über sein heutiges Erlebnis zu sprechen. Spätestens in einer halben Stunde würde er seines seelischen Gleichgewichts wegen alles so gedreht haben, als wäre die Ohrfeige, die er an diesem Tag eingesteckt hatte, der größte Triumph seines Lebens gewesen, oder als hätte es sich um eine ganz normale, nicht sonderlich interessante Begegnung mit Wunderkindern in der Provinz gehandelt, mit Kindern eben – was erwartest du? –, die sich weder in der Literatur noch im Leben auskannten. Ich würde gut ins Bildungsressort passen, dachte er hasserfüllt. Jemanden wie mich brauchen sie dort. Der einzige Trost ist, dass solche Kinder bisher noch sehr selten sind, und wenn die Akzeleration ihr jetziges Tempo beibehält, bin ich, so Gott will, tot, bis sie in Massen auftreten. Es ist sehr wichtig, rechtzeitig zu sterben!
Es klopfte an der Tür. Viktor rief: »Ja!«, und Pavor kam herein. Er wirkte deprimiert, hatte eine geschwollene Nase und trug einen bestickten, orientalisch anmutenden Morgen mantel.
»Endlich«, sagte er mit verschnupfter Stimme, setzte sich Viktor gegenüber, holte ein großes nasses Taschentuch unter dem Mantel hervor und begann sich zu schnäuzen und zu niesen. Pavor war nicht wiederzuerkennen, einen so kläglichen Anblick bot er.
»Was heißt endlich?«, fragte Viktor. »Möchten Sie einen Schluck Gin?«
»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Pavor schniefend. »Diese Stadt bringt mich noch um. Hat-schi! Ach …«
»Gesundheit«, wünschte Viktor.
Pavor starrte ihn mit tränenden Augen an.
»Wo stecken Sie nur immer?«, fragte er gereizt. »Ich war schon dreimal hier, um mir etwas zu lesen zu holen. Ich komme noch um, meine einzige Beschäftigung ist
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