Gesammelte Werke 6
kusche, dann gerate ich in Vergessenheit und klimpere nicht mehr …
Viktor zahlte, ging in sein Zimmer und zog seinen Regenmantel über, dann trat er in den Regen hinaus. Er sehnte sich plötzlich danach, Irma wiederzusehen, mit ihr über den Fortschritt zu reden, zu erklären, warum er so viel trank (ja wirklich, warum trinke ich eigentlich so viel?). Vielleicht würde auch Bol-Kunaz auftauchen, wohingegen er Lola bestimmt nicht zu Hause antraf … Die Straßen waren nass, grau und öde, und in den Vorgärten siechten die Apfelbäume in der Nässe dahin. Zum ersten Mal sah Viktor, dass Häuser mit Brettern vernagelt waren. Die Stadt hatte sich sehr verändert: Die Zäune standen krumm und schief, unter den Simsen kam der Schwamm zum Vorschein, die Farben waren verblichen, und auf den Straßen herrschte unangefochten der Regen. Der Regen fiel einfach nieder oder sprühte als feiner Wasserstaub von den Dächern, Regen bildete an zugigen Ecken kreisende Nebelsäulen, die von Wand zu Wand torkelten, gurgelte aus rostigen Abflussrohren, strömte über die Fahrbahn und floss durch die ausgewaschenen Ritze zwischen den Pflastersteinen. Schwarzgraue Wolken krochen über die Dächer, Menschen waren ungebetene Gäste auf den Straßen, und der Regen schonte sie nicht.
Als Viktor den Stadtplatz erreichte, sah er auf der Freitreppe der Polizeidirektion ein paar Leute unter dem Schutzdach stehen: zwei Polizisten in Uniformmänteln und einen kleinen schmutzigen Burschen in einem ölverschmierten Overall. Vor der Freitreppe, die linken Räder auf dem Gehsteig, parkte ein großer, klotziger Lastwagen mit Plane. Einer der Uniformierten war der Polizeichef; die wuchtige Kinnlade vorgeschoben, blickte er zur Seite, während der Bursche verzweifelt gestikulierte und mit weinerlicher Stimme auf ihn einredete. Der andere Polizist schwieg ebenfalls mit verkniffener Miene und zog an seiner Zigarette. Viktor trat näher heran; als er noch etwa zwanzig Schritt von der Freitreppe entfernt war, hörte er, was der Bursche sagte. Er schrie: »Was wollt ihr denn von mir? Hab ich die Verkehrsregeln verletzt? Nein, habe ich nicht. Sind meine Papiere in Ordnung? Jawohl, sie sind in Ordnung. Und mit der Ladung stimmt auch alles, hier ist der Lieferschein. Ich mache das doch nicht zum ersten Mal!«
Der Polizeichef erblickte Viktor, und auf sein Gesicht trat ein feindseliger Ausdruck. Er drehte sich um, so als wäre der Bursche gar nicht vorhanden, und wies den Polizisten an: »Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck. Sieh zu, dass alles klargeht. Steig nicht in die Kabine, sonst schleppen sie dir hinten die Ladung weg. Und lass keinen an den Wagen ran. Verstanden?«
»Verstanden«, meldete der Polizist. Ihm gefiel das Ganze überhaupt nicht.
Der Polizeichef kam die Treppe herunter, stieg in sein Auto und fuhr los. Der schmutzige Bursche spuckte wütend aus und rief Viktor zu: »Nun sagen Sie mir mal, was ich falsch gemacht habe.«
Viktor blieb stehen, was den Burschen sichtlich beflügelte. »Ich fahre wie immer. Bin mit Büchern unterwegs zur Sperrzone. Tausendmal habe ich das schon gemacht. Da halten sie mich an und dirigieren mich zur Polizeidirektion. Wieso? Hab ich die Verkehrsregeln verletzt? Nein, hab ich nicht. Sind meine Papiere in Ordnung? Jawohl, sie sind in Ordnung, hier ist der Lieferschein. Meinen Führerschein haben sie einkassiert, damit ich nicht abhaue. Aber wo sollte ich denn hin?«
»Hör auf zu schreien«, befahl der Polizist.
Der Bursche drehte sich mit einem Ruck wieder zu ihm um.
»Also, was habe ich verbrochen? Sagen Sie: Bin ich zu schnell gefahren? Nein, bin ich nicht. Die Wartezeit wird man mir abziehen. Und meine Papiere haben Sie eingezogen …«
»Das wird sich alles klären«, beschwichtigte der Polizist. »Was regst du dich so auf? Geh in die Kneipe da. Von dir will doch keiner was.«
»Diese Vorsteher!«, brüllte der Bursche und stülpte sich schwungvoll die Schirmmütze über den zerzausten Kopf. »Eine Wahrheit gibt’s nicht, immer haben sie recht! Fährt man nach links, halten sie einen an, fährt man nach rechts, halten sie einen auch an.« Er wollte schon die Treppe hinuntergehen, blieb aber noch einmal stehen und fragte den Polizisten: »Vielleicht lässt sich die Sache ja mit einem Bußgeld aus der Welt schaffen?«
»Geh schon, geh«, brummte der Polizist.
»Sie haben mir einen Eilzuschlag versprochen. Die ganze Nacht bin ich durchgefahren …«
»Geh, sag ich!«, zischte der
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