Gesammelte Werke 6
und flüsterte: »Ich fürchte eine Rebellion – und dann wird Blut fließen. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute ist?«
»Ja«, erwiderte Viktor. »Aber was habe ich damit zu tun?«
Der Bürgermeister lehnte sich in seinem Sessel zurück, entnahm einem Aluminiumröhrchen eine schon angerauchte Zigarre und zündete sie an.
»In meiner Lage«, erklärte er, »bleibt mir nur eins: alle Hebel in Bewegung zu setzen. Die Sache muss an die Öffentlichkeit. Die Munizipalität hat eine Petition ans Gesundheitsdepartement abgefasst, Herr Roßschäper wird sie unterschreiben und Sie, wie ich hoffe, auch. Aber das ist noch lange nicht genug. Die Sache muss an die Öffentlichkeit! Wir brauchen einen guten Artikel in einer Hauptstadtzeitung, mit einem bekannten Namen darunter. Mit Ihrem Namen, Herr Banew! Das Material ist hochaktuell – gerade für einen Tribun, wie Sie es sind. Ich bitte Sie sehr darum, in meinem eigenen Namen, im Namen der Munizipalität und im Namen der unglücklichen Eltern. Wir müssen erreichen, dass das Leprosorium von hier verschwindet, egal wohin. Hauptsache, wir werden diese Pestbeulen los. Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.«
»Ich verstehe«, sagte Viktor langsam. »Ich verstehe nur zu gut.«
Wenn du auch ein Mistkerl und ein Schwein bist, dachte er, verstehen kann ich dich. Aber was ist plötzlich mit den Nässlingen los? Sie waren immer so still und demütig, schlichen auf leisen Sohlen umher, und niemand konnte ihnen etwas Schlechtes nachsagen. Es hieß nur, dass sie stinken und eine ansteckende Krankheit haben, dass sie schönes Spielzeug und alles Mögliche aus Holz schnitzen. Ich erinnere mich auch, dass Freds Mutter meinte, sie hätten den bösen Blick, in ihrer Nähe würde die Milch sauer und sie brächten Kriege, Seuchen und Hunger über uns. Heute hocken sie hinter Stacheldraht – was machen sie da? Oh, eine ganze Menge. Sie machen das Wetter, verführen unsere Kinder (wozu?), rotten die Katzen aus (noch einmal: wozu?), und die Wanzen lernen bei ihnen das Fliegen.
»Wahrscheinlich denken Sie, wir legen die Hände in den Schoß und sehen ruhig zu«, fuhr der Bürgermeister fort. »Aber das stimmt nicht. Was tun wir also? Ich bereite einen Prozess gegen Golem vor. Der Herr Hygieneinspektor Pavor Summan hat sich bereiterklärt, als Berater zu fungieren. Wir werden uns darauf berufen, dass die Frage der Ansteckung noch längst nicht geklärt ist und Golem, dieser verkappte Kommunist, das ausnutzt. Das ist das eine. Weiterhin versuchen wir, dem Terror mit Terror zu begegnen. In der Städtischen Legion, unserem Stolz, haben sich prächtige Jungs zusammengetan … Obwohl, das ist alles nicht das Richtige … Es kommen einfach keine Weisungen von oben. Die Polizei ist in einer dummen Lage, und überhaupt … Wir behindern die Nässlinge, so gut wir können: halten Lieferungen zurück, die für sie bestimmt sind – natürlich nur die privaten, keine Lebensmittel oder Bettwäsche, aber zum Beispiel die Bücher, die sie haufenweise bestellen. Heute haben wir einen Lastwagen aufgehalten, und danach ist einem gleich ein bisschen wohler. Dennoch ist das alles Kleinkram, nichts als Verzweiflungsakte, dabei müsste man radikal …«
»Soso«, unterbrach ihn Viktor. »Prächtige Jungs also. Wie hieß er doch gleich? Flamenda? Der Neffe …«
»Flamin Juventa«, berichtigte der Bürgermeister. »Mein Stellvertreter in der Legion, ein tapferer Bursche. Sie kennen ihn schon?«
»Flüchtig«, erwiderte Viktor. »Und warum halten Sie die Bücher zurück?«
»Was heißt warum? Es ist natürlich dumm, aber schließlich sind wir auch bloß Menschen, es lässt einem keine Ruhe. Und außerdem …« Der Bürgermeister lächelte verschämt. »Natürlich ist es Blödsinn, aber wie’s heißt, können sie ohne Bücher nicht leben – so wie normale Menschen nicht ohne Essen und Trinken.«
Schweigen trat ein. Viktor stocherte lustlos in seinem Beefsteak und überlegte. Ich weiß nicht viel über die Nässlinge, und was ich weiß, macht sie mir nicht gerade sympathisch. Vielleicht kommt das daher, dass ich sie schon als Kind nicht sonderlich mochte. Aber den Bürgermeister und seine Bande kenne ich auch – diese Fettaugen der Nation, Ohrenbläser des Präsidenten und Erzreaktionäre … Nein, wenn ihr gegen die Nässlinge seid, dann sind sie was Besonderes. Trotzdem könnte ich den Artikel schreiben, sogar einen recht scharfen, mich wagt sowieso keiner zu drucken. Der Bürgermeister wäre
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