Gesammelte Werke 6
Polizist.
Der Bursche spuckte noch einmal aus, ging zu seinem Lieferwagen und trat zweimal gegen das Vorderrad, dann zog er den Kopf ein, steckte die Hände in die Taschen und trippelte quer über den Platz davon.
Der Polizist musterte erst Viktor, dann den Lastwagen und anschließend den Himmel. Seine Zigarette war ausgegangen, er spuckte die Kippe aus, schlug dann seine Kapuze zurück und verschwand in der Direktion.
Viktor stand eine Weile unschlüssig da und ging dann langsam um den Lastwagen herum. Es war eins der wuchtigen, stabilen Fahrzeuge, auf denen früher die motorisierte Infanterie transportiert worden war. Viktor sah sich kurz um. Wenige Meter vor dem Lastwagen stand die »Harley« der Polizei, das Vorderrad zur Seite gedreht, im Regen, sonst waren keine Fahrzeuge in der Nähe. Einholen können sie mich, dachte Viktor, aber den Teufel werden sie tun und mich stoppen. Er wurde plötzlich ganz fröhlich. Hol’s der Kuckuck, dachte er: Der bekannte Schriftsteller Banew hat sich wieder mal betrunken und aus Jux ein fremdes Fahrzeug entführt. Zum Glück gab es keine Opfer … Er wusste zwar, dass er nicht so glimpflich davonkommen und auch nicht der Erste sein würde, der den Machthabern einen plausiblen Vorwand lieferte, einen unbequemen Menschen ins Gefängnis zu stecken, aber er wollte jetzt nicht nachdenken, er wollte seinem Impuls folgen. Notfalls schreibe ich dem Mistkerl seinen Artikel, ging es ihm durch den Kopf.
Rasch öffnete er die Tür zum Fahrerhaus und setzte sich ans Lenkrad. Der Schlüssel steckte nicht, und so musste er die Zünddrähte kurzschließen. Der Motor sprang an, und bevor Viktor die Tür zuschlug, warf er noch einen Blick zurück zur Freitreppe der Polizeidirektion. Dort stand der Polizist von vorhin mit verkniffener Miene und einer Zigarette zwischen den Lippen. Anscheinend begriff er noch nicht, was vor sich ging. Viktor schlug die Tür zu, rollte vorsichtig auf die Fahrbahn, legte den Gang ein und bog um die nächste Ecke.
Es war herrlich, durch die auffallend leeren Straßen zu rasen, das Wasser aus den tiefen Pfützen zu Fontänen hochzuwirbeln und sich mit dem ganzen Körper über das schwere Lenkrad zu legen. Er ließ die Konservenfabrik, den Park und das Stadion hinter sich, in dem die »Brüder im Geiste« wie nasse Roboter dem Leder nachjagten, erreichte die Chaussee mit ihren Furchen und Schlaglöchern, die ihn auf seinem Sitz hochschnellen ließen, und hörte hinter sich die schlecht verstaute Ladung rumpeln. Im Rückspiegel waren keine Verfolger auszumachen, und bei dem Regen war es auch kaum möglich, etwas zu erkennen. Viktor fühlte sich wieder jung, nützlich, ja sogar berauscht. Von der Kabinendecke zwinkerten ihm aus Zeitschriften ausgeschnittene Mädchen zu, im Handschuhfach entdeckte er eine Schachtel Zigaretten. Vor lauter Freude hätte er fast die Kreuzung verpasst, er bremste aber noch rechtzeitig und folgte dem Wegweiser: »Leprosorium – 6 km«. Dabei kam er sich vor wie ein Entdecker, weil er in dieser Richtung noch nie gefahren oder gegangen war. Die Straße war hier gut – kein Vergleich zur Städtischen Chaussee; erst kam glatter Asphalt und dann Beton. Beim Anblick des Betons musste er sofort an Stacheldraht und Soldaten denken, und fünf Minuten später sah er sie.
Der Drahtzaun links und rechts von der Betonstraße bildete jeweils eine gerade Linie, die sich im Regen verlor, und ein hohes Tor mit angrenzendem Schilderhaus versperrte die Straße. Die Tür des Wachhauses war offen, und an der Schwelle stand ein Soldat mit Helm, Stiefeln und Regenumhang; darunter lugte der Lauf einer MPi hervor. Ein zweiter Soldat, der keinen Helm trug, blickte aus dem Fensterchen. »Ich war nie in einem Lager«, sang Viktor, »aber sagt nicht: Gott sei Dank …« Er nahm den Fuß vom Gaspedal und hielt direkt vor dem Tor. Der Soldat verließ das Schilderhaus und trat auf ihn zu – ein junges, sommersprossiges Kerlchen von höchstens achtzehn Jahren.
»Guten Tag«, grüßte er. »Warum kommen Sie so spät?«
»Widrige Umstände«, antwortete Viktor, über den laxen Ton erstaunt.
Der Soldat musterte ihn aufmerksam und nahm plötzlich Haltung an.
»Ihre Papiere«, sagte er trocken.
»Was denn für Papiere?«, erwiderte Viktor fröhlich. »Ich sagte doch: widrige Umstände.«
Der Soldat presste die Lippen zusammen. »Was bringen Sie uns?«, fragte er.
»Bücher«, parierte Viktor.
»Haben Sie einen Passierschein?«
»Natürlich nicht.«
»Aha«,
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