Gesammelte Werke 6
nachzudenken. Viktor jedenfalls tat es. Ihm kamen jedoch nur unzusammenhängende Gedanken. Und nicht einmal Gedanken, sondern Bruchstücke von Erinnerungen, Gesprächsfetzen, Lolas dummes, geschminktes Gesicht … Vielleicht sollten wir’s lieber abtreiben lassen? Was wollen wir jetzt mit einem Kind … Sein Vater mit vor Wut zitternden Lippen … Ich mache noch einen Menschen aus dir, du lausiger Grünschnabel, ich ziehe dir das Fell über die Ohren … Ich hab plötzlich gemerkt, dass ich eine zwölfjährige Tochter habe, kannst du sie nicht irgendwo anständig unterbringen? Irma sieht sich neugierig den besudelten Roßschäper an … Nein, nicht Roßschäper, mich … Mir ist das unangenehm, aber was versteht diese Rotznase schon! Kusch! … Hier hast du eine Puppe, ist das nicht eine schöne Puppe? … Dazu bist du noch zu klein, das erfährst du, wenn du größer bist.
»Na, worauf wartet ihr noch?«, donnerte die Stimme . »Geht auseinander!«
Ein kalter Wind kam auf, schlug den Leuten ins Gesicht und legte sich wieder.
»Geht endlich«, wiederholte die Stimme .
Und wieder kam ein Wind auf, der den Leuten wie eine schwere, nasse Hand ins Gesicht fuhr, ihnen einen Stoß gab und wieder verschwand. Viktor rieb sich das Gesicht und sah die Menge zurückweichen. Jemand schrie laut auf, unsichere Ausrufe erschallten, und um Autos und Busse herum bildeten sich Menschentrauben. Von allen Seiten kamen sie auf die Ladefläche geklettert, plötzlich hatten sie’s eilig, alles drängte vorwärts, stieg in die Autos oder zerrte ungeduldig an den ineinander verkeilten Fahrradlenkern. Motoren heulten auf. Viele machten sich zu Fuß auf den Weg, wobei sie immer wieder zurückblickten – aber nicht nach den MPis, nicht nach dem Maschinengewehr auf dem Turm und nicht nach dem Panzerwagen, der eisern rasselnd heranrollte und mit offenen Luken, für alle sichtbar, stehen blieb. Viktor wusste, warum sich die Leute umdrehten und warum sie es plötzlich so eilig hatten; sein Gesicht brannte, und wenn er etwas fürchtete, dann nur, dass die Stimme wieder sagen könnte: »Geht!«, und ihm dabei noch einmal die schwere, nasse Hand verächtlich übers Gesicht striche.
Das Häufchen Goldhemden tappte noch immer unent schlossen am Tor herum; es waren aber schon weniger gewor den, und nun trat der Offizier auf den Rest zu und brüllte die Männer an – imposant und selbstsicher kam er seiner angenehmen Pflicht nach. Die Goldhemden wichen zurück, drehten sich um und trabten langsam davon; unterwegs lasen sie noch die abgeworfenen grauen, blauen und schwarzen Regenmäntel auf. Bald war kein einziger goldener Fleck mehr zu sehen, stattdessen rollten Busse und PKWs vorbei. Die Leute auf der Ladefläche sahen sich besorgt und ungeduldig nach allen Seiten um und fragten: »Wo bleibt der Fahrer?« Da tauchte plötzlich Diana auf, Diana-die-Wilde, stieg aufs Trittbrett, blickte auf die Ladefläche und schrie wütend: »Nur bis zur Kreuzung! Der Wagen fährt zum Sanatorium!« Niemand wagte ihr zu widersprechen, die Leute blieben ungewöhnlich still und waren mit allem einverstanden. Teddy ließ sich nicht mehr blicken, wahrscheinlich war er schon in einen anderen Wagen gestiegen. Diana wendete, und sie fuhren die bekannte betonierte Straße hinunter, überholten Fußgängertrupps und Radfahrer und wurden ihrerseits von überladenen, schwer auf den Stoßdämpfern liegenden PKWs überholt. Es regnete nicht mehr, nur die Luft war noch neblig und feucht. Der Regen setzte erst wieder ein, als Diana den Lastwagen an die Kreuzung steuerte, die Leute von der Ladefläche kletterten und Viktor ins Fahrerhaus stieg.
Sie schwiegen, bis sie im Sanatorium ankamen.
Diana ging sofort zu Roßschäper – zumindest sagte sie das. Viktor warf den Regenmantel ab, ließ sich in seinem Zimmer aufs Bett fallen, steckte sich eine Zigarette an und starrte zur Decke. Ein, zwei Stunden lang rauchte er ununterbrochen, warf sich herum, stand auf, lief durchs Zimmer, sah zerstreut aus dem Fenster, zog die Vorhänge zu und wieder auf, trank Wasser aus der Leitung, weil ihn Durst quälte, und wälzte sich auf dem Bett herum.
Was für eine Demütigung, dachte er. Sicher, sie haben ihren Kindern Ohrfeigen gegeben, sie wie lästige Bettler beschimpft, aber trotzdem waren sie Mutter und Vater, haben ihre Kinder geliebt. Sie haben sie geschlagen, wären aber auch jederzeit bereit gewesen, für sie ihr Leben zu geben. Sie haben sie nach ihrem Beispiel verdorben, aber doch
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