Gesammelte Werke 6
sondern die Menge. Die Legionäre bauten sich in einer Linie vor den Soldaten auf, und vor der Linie lief, seinen Schlagstock schwenkend, Flamin Juventa, der Neffe, auf und ab. Viktor sah sich ratlos und verzweifelt nach allen Seiten um, als man dem Offizier ein Megafon aus dem Schilderhaus brachte. Der Offizier freute sich, er lächelte sogar und brüllte mit Donnerstimme los – doch er kam nur dazu, die Worte auszustoßen: »Ich bitte um Aufmerksamkeit! Ich bitte die Versammelten …«, als das Megafon streikte. Der Offizier wurde bleich und pustete kurz durch den Trichter. Flamin Juventa, der ihm hatte zuhören wollen, begann nun mit doppeltem Eifer hin und her zu laufen und den Schlagstock zu schwenken. Und plötzlich brüllte die Menge los, drohend, und als schrien alle auf einmal: die, die schon vorher geschrien hatten, und auch die, die vorher geschwiegen oder sich unterhalten, geweint oder gebetet hatten, und auch Viktor schrie, außer sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, was nun jeden Augenblick geschehen musste. »Zieht diese Hohlköpfe zurück!«, brüllte er. »Zieht die Feuerwehrmänner zurück! Das ist der Tod! Aufhören! Diana!« Es war nicht auszumachen, wer was schrie, aber die Menge, die bisher reglos dagestanden hatte, schwankte plötz lich hin und her wie eine überdimensionale Portion Sülze. Der Offizier ließ das Megafon fallen und zog sich zur Tür des Schilderhauses zurück. Die Gesichter der Soldaten unter den Helmen verzerrten sich zu einem wütenden Zähnefletschen, und oben, auf dem Turm, regte sich nichts mehr: Von dort zielte man in die Menge. Und da erscholl die Stimme .
Sie kam wie ein Donnerschlag, von allen Seiten zugleich und übertönte alle anderen Geräusche. Sie klang ruhig, ja melancholisch und maßlos gelangweilt, äußerst herablassend, als spräche da ein arroganter, menschenverachtender Riese, der der lästigen Menge ursprünglich den Rücken zugekehrt hatte und sich ihr nun für einen Augenblick und über die Schulter hinweg zuwandte, als hätte er sich dieser für ihn ärgerlichen Lappalie wegen von wichtigeren Dingen losgerissen.
»Hört endlich auf zu schreien«, befahl die Stimme . »Hört auf herumzufuchteln und zu drohen. Ist es wirklich so schwer, das Geschwätz einmal für ein paar Minuten einzustellen und in Ruhe nachzudenken? Ihr wisst doch zu gut, dass euch die Kinder auf eigenen Wunsch verlassen haben, niemand hat sie dazu gezwungen, niemand hat sie am Kragen gepackt. Sie haben euch verlassen, weil sie euch nicht mehr ertragen können. Sie wollen nicht mehr so leben wie ihr und eure Vorfahren. Ihr ahmt eure Vorfahren fürs Leben gern nach und haltet das für einen menschlichen Vorzug, eure Kinder aber sehen das anders. Sie wollen nicht als Säufer und Perverse, als erbärmliche Spießer, Sklaven und Konformisten enden, sie wollen nicht, dass man aus ihnen Verbrecher macht, sie wollen weder eure Familie noch euren Staat.«
Die Stimme verstummte für eine Minute. Und eine ganze Minute lang hörte man keinen Mucks – da war nur ein Rascheln, das von dem Nebel auszugehen schien, der über die feuchte Erde kroch. Dann sprach die Stimme weiter: »Ihr braucht euch um eure Kinder keine Sorgen zu machen. Sie werden es gut haben – besser als bei euch und viel besser als ihr selbst. Heute können sie euch nicht empfangen, aber ab morgen dürft ihr herkommen. Im Rossgrund wird ein Haus der Begegnung eröffnet, und ihr könnt euch täglich ab fünfzehn Uhr dort einfinden. Um 14.30 Uhr werden jeden Tag drei große Busse vom Stadtplatz abfahren. Das wird zwar nicht ausreichen, zumindest nicht morgen, aber um zusätzliche Transportmittel kann sich euer Bürgermeister kümmern.«
Wieder schwieg die Stimme . Die Menge verharrte reglos wie eine Mauer. Es war, als wagten sich die Leute nicht zu rühren.
»Eins aber solltet ihr bedenken«, fuhr die Stimme fort. »Es hängt von euch ab, ob die Kinder euch sehen wollen. In den ersten Tagen können wir sie noch zwingen, sich mit euch zu treffen, selbst wenn sie es nicht wollen, später aber liegt es an euch. Und jetzt geht auseinander. Ihr schadet uns, den Kindern und euch selbst. Und ich rate euch dringend: Denkt darüber nach – versucht es zumindest –, was ihr euren Kindern geben könnt. Seht euch doch an. Ihr habt sie zur Welt gebracht und wollt sie nach eurem Muster zurechtbiegen. Denkt darüber nach, jetzt aber geht auseinander.«
Die Menge rührte sich noch immer nicht. Vielleicht versuchten die Menschen
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