Gesammelte Werke 6
oder – den vom Restaurant dazugerechnet – sogar fünf. Allerdings hatte er keine »Brille«. Sie schien sich vielmehr über sein ganzes Gesicht verteilt und die Haut wie bei einem Kariben gelblich gefärbt zu haben. Diana blickte bald ihn, bald ihren Mann mit einem seltsamen, mütterlichen Lächeln an. Und das war unangenehm. Viktor empfand so etwas wie Eifersucht, ein Gefühl, das er früher gegenüber Ehemännern nie verspürt hatte. Die Kellnerin brachte die Suppe.
»Irma lässt Sie grüßen«, sagte Sursmansor und brach sich ein Stück Brot ab. »Sie bittet Sie, sich keine Sorgen zu machen.«
»Danke«, erwiderte Viktor automatisch. Er nahm den Löf fel und fing an zu essen, ohne allerdings etwas zu schmecken. Sursmansor aß ebenfalls und musterte Viktor verstohlen – er lächelte nicht, hatte aber einen belustigten Gesichtsausdruck. Die Handschuhe behielt er an, aber wie er mit dem Löffel hantierte, das Brot brach und sich der Serviette bediente, zeugte von guter Erziehung.
»Also sind Sie doch Sursmansor«, stellte Viktor fest. »Der Philosoph …«
»Ich fürchte, nein.« Sursmansor tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. »Ich fürchte, dass ich heute von jenem berühmten Philosophen weit entfernt bin.«
Viktor wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und be schloss abzuwarten. Schließlich geht dieses Treffen nicht von mir aus, ich wasche meine Hände in Unschuld – er wollte mich sehen, also soll er auch anfangen. Das Hauptgericht wurde aufgetragen. Bedächtig zersäbelte Viktor das Fleisch. An den langen Tischen klapperten, einträchtig schmatzend, die »Brüder im Geiste« mit Messern und Gabeln. Ich werde mal wieder kräftig an der Nase herumgeführt, dachte Viktor. Ein Bruder im Geiste. Bestimmt liebt sie ihn immer noch. Er wurde krank, sie mussten sich trennen, aber sie wollte ihn nicht verlassen; wozu hat sie sich sonst in dieses Loch verkrochen und trägt Roßschäpers Nachttopf raus? Hier können sie sich oft sehen, er schleicht sich ins Sanatorium, nimmt die Binde ab und tanzt mit ihr; er erinnerte sich, wie sie miteinander getanzt hatten – wie zwei Weiber. Trotzdem. Sie liebt ihn. Aber was kümmert mich das? Und doch, es kümmert mich. Jawohl. Irgendetwas stimmt da nicht. Aber was? Sie nehmen mir die Tochter weg, aber ich bin nicht als Vater eifersüchtig. Sie nehmen mir die Frau weg, aber ich bin nicht als Mann eifersüchtig. Verflixt, was sind das für Gedanken! Sie nehmen mir die Frau weg, sie nehmen mir die Tochter weg … Eine Tochter, die mich als Zwölfjährige zum ersten Mal gesehen hat. Oder ist sie schon dreizehn? Eine Frau, die ich erst seit kurzem kenne. Aber ich bitte zu beachten: Ich bin eifersüchtig, und das weder als Vater noch als Mann. Alles wäre einfacher, wenn Sursmansor jetzt sagte: »Mein Herr, ich weiß alles, sie haben meine Ehre verletzt, was halten Sie von Satisfaktion?«
»Wie kommen Sie mit dem Artikel voran?«, erkundigte er sich stattdessen. Und er stellte die Frage nicht, um ein Gespräch anzufangen. Diesen Nässling schien es tatsächlich zu interessieren, wie Viktor mit seiner Arbeit an dem Artikel vorankam.
»Gar nicht«, antwortete Viktor.
»Ich würde ihn gerne einmal lesen«, teilte Sursmansor mit.
»Wissen Sie denn, was ich für einen Artikel schreiben soll?«
»Ja, ich kann es mir denken. Aber so einen Artikel werden Sie doch nicht verfassen, oder?«
»Und wenn man mich dazu zwingt? General Pferd wird sich kaum für mich verwenden.«
»Sie müssen verstehen«, begann Sursmansor, »einen Artikel, wie ihn der Herr Bürgermeister erwartet, kriegen Sie sowieso nicht zustande – auch wenn Sie sich noch so anstrengen. Es gibt Menschen, die jede vor ihnen liegende Aufgabe ganz automatisch, also unabhängig von ihrem Willen, ihrer Fasson nach ummodeln. Und zu diesen Menschen gehören Sie.«
»Ist das gut oder schlecht?«, wollte Viktor wissen.
»Aus unserer Sicht ist es gut. Über die menschliche Persönlichkeit weiß man, von den Reflexen einmal abgesehen, sehr wenig. Die Masse besitzt über diese Reflexe hinaus kaum etwas anderes. Darum sind die sogenannten schöpferischen Persönlichkeiten, die jede Information über die Wirklichkeit individuell verarbeiten, besonders wertvoll. Vergleicht man ein bekanntes, gründlich erforschtes Phänomen mit seiner Widerspiegelung im Schaffen einer schöpferischen Persönlichkeit, erfährt man viel über den psychischen Apparat, der diese Information verarbeitet.«
»Haben Sie nicht den Eindruck,
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