Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
Vom Netzwerk:
begegneten ihnen mehr und mehr Menschen. Manche von ihnen gingen zu Fuß, schnappten im strömenden Regen nach Luft, erschienen bedauernswert und verschreckt, als könnten sie nicht recht begreifen, was sie taten und wozu. Andere fuhren mit dem Fahrrad und rangen im Gegenwind ebenfalls nach Luft. Der Lastwagen passierte verlassene, liegengebliebene Fahrzeuge; entweder hatten sie eine Panne gehabt oder waren in der Eile nicht aufgetankt worden, und ein Fahrzeug lag sogar im Straßengraben. Diana hielt immer wieder an und sammelte Leute ein, sodass die Ladefläche bald schon überfüllt war. Viktor und Teddy überließen ihre Plätze einer Frau mit Säugling und einer halb verrückten Alten und stiegen ebenfalls hinten auf. Dann war auch dort kein Platz mehr und Diana fuhr, ohne ein weiteres Mal anzuhalten. Der Lastwagen raste die Chaussee entlang, überholte Dutzende, ja Hunderte von Menschen, die sich zum Leprosorium schleppten, und bespritzte sie mit Wasserfontänen. Ein paarmal wurden sie von vollbeladenen Lastern oder Motorrädern überholt, und ein Lastwagen fuhr dicht heran und hängte sich an sie.
    Diana war das Fahren mit dem Lkw gewohnt: Entweder transportierte sie Kognak für Roßschäper, oder sie fuhr mit dem leeren Wagen zum eigenen Vergnügen durch die Gegend – weshalb ihre Fahrgäste nichts zu lachen hatten. Nicht alle konnten sitzen, dazu reichte der Platz nicht; die Stehenden klammerten sich aneinander oder an die Köpfe der Sitzenden; jeder versuchte sich von der Bordwand fernzuhalten, und niemand sagte ein Wort – alles keuchte und fluchte, und eine Frau weinte unaufhörlich. Dazu der Regen – solchen Regen hatte Viktor noch nie im Leben gesehen, ja, sich nicht einmal vorstellen können. Es war ein tropischer Regenguss, der da auf sie herabstürzte, nur dass das Wasser nicht warm war, sondern eisig und mit Hagel vermischt, und der starke Wind den Regen auf sie zutrieb. Die Sicht war katastrophal – fünfzehn Meter nach vorn und fünfzehn Meter nach hinten –, und Viktor hatte Angst, Diana könnte auf der Chaussee jemanden überfahren oder gegen ein bremsendes Fahrzeug prallen. Aber alles ging gut, und die Leute traten Viktor nur kräftig auf die Füße, als sie ein letztes Mal übereinanderstürzten – der Lastwagen hatte neben einer großen Ansammlung von Fahrzeugen jäh vor dem Tor des Leprosoriums angehalten.
    Anscheinend hatte sich hier, auf der Flucht vor der Sintflut, die ganze Stadt eingefunden, denn hier regnete es nicht. Zu beiden Seiten der Chaussee stand am Stacheldraht, so weit das Auge reichte, eine tausendköpfige Menge, hinter der die leeren, achtlos abgestellten Fahrzeuge fast nicht mehr auszumachen waren: langgestreckte Luxuslimousinen, lädierte PKWs mit Verdeck, Lastwagen, Busse und sogar ein Autokran, auf dessen Ausleger ein paar Leute saßen. Über der Menge lag ein dumpfes Murren, und hin und wieder ertönte ein durchdringender Schrei.
    Alles sprang von der Ladefläche, und Viktor verlor Diana und Teddy sofort aus den Augen; ringsum sah er nur noch Gesichter – unbekannte, düstere, erbitterte, fassungslose, weinende und schreiende Gesichter, ohnmächtig verdrehte Augen und gefletschte Zähne. Viktor versuchte sich zum Tor durchzuschlagen, blieb aber nach wenigen Schritten hoffnungslos in der Menge stecken. Die Menschen standen dicht an dicht wie eine Mauer, und niemand wollte den einmal ergatterten Platz aufgeben. Ob man sie stieß, trat oder schlug – sie drehten sich nicht einmal um, sondern zogen nur die Köpfe ein und drängten nach vorn, näher ans Tor, näher zu ihren Kindern. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen und reckten die Hälse, sodass hinter der wogenden Masse von Kapuzen und Hüten nichts zu erkennen war.
    »Mein Gott, womit haben wir das verdient? Was haben wir nur verbrochen?«
    »Diese Schweine! Die hätte man längst ausrotten sollen. Kluge Leute haben schon immer gesagt …«
    »Wo ist der Bürgermeister? Wo, zum Teufel, steckt der Kerl? Wo bleibt die Polizei? Warum lässt sich keiner von den Bullen blicken?«
    »Sim, ich werde zerquetscht! Sim, ich krieg keine Luft! Ach, Sim …«
    »Hatten sie nicht alles, was sie brauchten? Für sie war uns doch nichts zu teuer. Wir haben uns das Essen vom Munde abgespart und sind in Lumpen herumgelaufen, damit sie was anzuziehen hatten …«
    »Einmal kräftig zugedrückt, und das Tor fliegt aus den Angeln!«
    »Kein Haar hab ich ihm gekrümmt. Ich habe ja oft genug gesehen, wie Sie Ihren verdroschen haben,

Weitere Kostenlose Bücher