Gesammelte Werke 6

aber bei uns, da gab’s so etwas nicht …«
    »Habt ihr die Maschinengewehre gesehen? Wollen die viel leicht in die Menge schießen? Sind das etwa ihre Kinder?«
    »Munilein! Munilein! Mein Munilein! Munilein!«
    »Was soll das, Herrschaften? Das ist doch glatter Wahnsinn! Hat man so etwas schon einmal gesehen?«
    »Keine Sorge, die Legionäre werden es ihnen schon zeigen. Sie schleichen sich von hinten ran, verstehst du? Wenn sie das Tor aufmachen, sind wir drin …«
    »Hast du die Maschinengewehre gesehen? Die machen Ernst …«
    »Lasst mich durch! So lasst mich doch durch! Meine Toch ter ist da drin!«
    »Das war schon lange geplant, ich hab’s bemerkt, mich aber nicht getraut zu fragen.«
    »Vielleicht ist alles halb so schlimm. Sind das etwa wilde Tiere? Das sind doch keine Okkupanten, die unsere Kinder erschießen oder im Ofen verbrennen.«
    »Krieg ich einen von denen in die Finger, fließt Blut!«
    »Viel kann mit uns ja nicht los sein, wenn die eigenen Kinder diese Pestbeulen vorziehen. Sie sind doch freiwillig gegangen, keiner hat sie gezwungen …«
    »He, wer hat hier ein Gewehr? Raustreten! Wer hat ein Gewehr, frag ich? Zu mir raustreten, hierher, hier bin ich!«
    »Das sind meine Kinder, guter Mann, ich habe sie gezeugt und kann mit ihnen machen, was ich will!«
    »Mein Gott, wo bleibt die Polizei?«
    »Wir sollten dem Herrn Präsidenten ein Telegramm schicken! Fünftausend Unterschriften kann er nicht unter den Tisch fallen lassen!«
    »Sie haben die Frau eingequetscht! Rück doch mal ein bisschen, du Trottel! Hast du keine Augen im Kopf?«
    »Mein Munilein! Munilein! Munilein!«
    »Petitionen nützen auch nichts. Bei uns hält man nichts davon. Deine Petition, die hauen sie dir um die Ohren.«
    »Macht das Tor auf, ihr Idioten! Ihr lausigen Nässlinge! Aasbande!«
    »Das Tor!«
    Viktor wich zurück. Doch das war gar nicht so einfach, und er musste ein paar harte Hiebe einstecken. Schließlich gelang es ihm doch, aus der Menge herauszutreten, dann schlug er sich zum Lastwagen durch und stieg wieder hinten auf. Das Leprosorium war in dichten Nebel gehüllt; hinter dem Zaun konnte man höchstens zehn Meter weit blicken. Das Tor war geschlossen, davor befand sich eine freie Fläche, und darauf standen breitbeinig, die MPi auf die Menge gerichtet, ungefähr zehn Soldaten des Innendienstes mit tief in die Stirn gezogenen Helmen. Auf der Außentreppe des Schilderhauses brüllte ein angestrengt auf den Zehenspitzen wippender Offizier etwas in die Menge, was jedoch niemand verstand. Über dem Schilderhaus ragte ein hölzerner Turm in den Nebel hinein, auf dessen oberer Plattform ein Maschinengewehr und ein paar graue Gestalten zu erkennen waren. Dann rollte mit kaum hörbarem Rasseln ein Halbkettenpanzerwagen am Stacheldraht entlang, rumpelte über Bülten hinweg und verschwand im Nebel. Beim Anblick des Panzerwagens verstummte die Menge, sodass plötzlich sogar das angestrengte Geschrei des Offiziers zu vernehmen war: »Ruhe … Ich habe den Befehl … nach Hause …« Kurz darauf setzte das Murmeln, Murren und Heulen wieder ein.
    Plötzlich tat sich etwas vor dem Tor. Zwischen den schwar zen, blauen und grauen Regenmänteln und Umhängen leuch teten die bis zum Überdruss bekannten kupfernen Helme und Goldhemden auf. Wie Lichtreflexe tauchten sie hier und da in der Menge auf, drängten auf die freie Fläche und verschmolzen dort zu einer goldgelben Masse. Kraftprotze im knielangen Goldhemd, mit Offizierskoppel, schwerem Koppelschloss und blank geputztem kupfernem Helm, weswegen man die Legionäre auch Feuerwehrmänner nannte. Sie trugen kurze, massive Schlagstöcke bei sich und waren über und über mit Emblemen der Legion geschmückt: Diese prangten auf dem Koppelschloss, dem linken Ärmel, an der Brust, auf dem Schlagstock, dem Helm und in der Visage – der kantigen, muskulösen Visage mit den Wolfsaugen … Und Abzeichen, ganze Sternbilder von Abzeichen; das Abzeichen des Besten Schützen, des Besten Fallschirmspringers und des Besten U-Boot-Fahrers, Abzeichen mit dem Porträt des Herrn Präsidenten und seines Schwiegersohns, des Begründers der Legion, und seines Sohnes, des obersten Chefs der Legion … Jeder von ihnen hatte eine Bombe mit Tränengas in der Tasche, und wenn auch nur einer dieser Hohlköpfe aus Übermut eine solche Bombe warf, würden die MPis der Soldaten, das Maschinengewehr auf dem Turm und die Maschinengewehre des Panzerwagens losrattern, und sie träfen nicht die Goldhemden,