Gesammelte Werke 6
nicht aus Absicht, sondern aus Unkenntnis. Ihre Mütter haben sie unter Schmerzen geboren, ihre Väter haben sie mit Essen und Kleidung versorgt, und sie waren stolz auf ihre Kinder und haben sich gegenseitig von ihnen vorgeschwärmt, mit ihnen angegeben. Oft haben sie sie verflucht, sich aber ein Leben ohne sie nicht vorstellen können. Und jetzt ist ihr Leben öde und leer, nichts ist ihnen geblieben. Wie kann man nur so grausam und voller Verachtung, so kalt und herzlos mit ihnen sprechen und ihnen zum Abschied noch eine Ohrfeige geben … Verflixt noch mal: Ist denn alles, was der Mensch mit dem Tier gemein hat, schlecht? Selbst die Mutterschaft, das Lächeln einer Madonna, die sanften, zarten Hände, die dem Säugling die Brust reichen? … Ja, der Instinkt und die darauf aufbauende Religion … Wahrscheinlich kommt alles daher, dass man die Religion auch auf die Erziehung ausdehnen will, bei der überhaupt keine Instinkte mehr wirksam sind, und wenn, dann nur negative. Die Wölfin sagt zu ihren Jungen: »Beißt wie ich«, und das genügt; die Häsin lehrt ihre Häslein: »Lauft wie ich«, und auch das genügt; der Mensch jedoch fordert von seinen Kindern: »Denkt wie ich« – das aber ist bereits ein Verbrechen …
Und womit halten es die da – die Nässlinge, diese Pestbeulen und Scheusale? Alles, nur keine Menschen sind das, höchstens Übermenschen … Und womit halten sie es? Erst heißt’s: »Sieh dir an, wie die Menschen vor dir gedacht haben, sieh dir an, was dabei herausgekommen ist, das ist schlecht, weil es so und so ist, doch es muss anders, nämlich so und so sein. Hast du’s dir angesehen? Und jetzt denk selber nach, überleg dir, was zu tun ist, damit es nicht so und so wird, sondern so und so.« Ich weiß bloß nicht, was dieses »so und so« ist? Überhaupt scheint mir das alles schon mal da gewesen zu sein, das hat man alles schon mal ausprobiert, und was dabei herausgekommen ist, waren einige wenige gute Menschen. Die Masse aber blieb auf dem alten Weg und wich, weil’s so üblich und auch am einfachsten war, nicht davon ab. Wie sollen die Menschen ihre Kinder erziehen, wenn ihr Vater sie nicht erzogen, sondern ihnen bloß eingetrichtert hat: »Beißt wie ich, und versteckt euch wie ich«, und dasselbe hat schon der Großvater dem Vater eingetrichtert und der Urgroßvater dem Großvater, und so setzt es sich fort bis in die Zeit der Höhlenbewohner, der behaarten Speerträger und Mammutfresser. Mir tun sie ja leid, diese haarlosen Nachkommen. Sie tun mir leid, weil ich mir selbst leidtue; denen aber sind wir völlig schnuppe, die brauchen uns nicht, und sie haben nicht die Absicht, uns umzuerziehen. Sie wollen nicht die alte Welt zerstören, die alte Welt interessiert sie gar nicht. Sie haben eigene Sorgen und verlangen von der alten Welt nur eins: dass sie sie in Ruhe lässt. Heute geht das, heute kann man mit Ideen handeln, heute gibt es mächtige Ideenkäufer, die dich beschützen und die ganze Welt hinter Stacheldraht treiben, damit dich die alte Welt nicht stört. Sie hätscheln und päppeln dich und schärfen beflissen die Axt, mit der du den Ast abschlägst, auf dem sie, mit Litzen und Orden geschmückt, sitzen.
Hol’s der Teufel – irgendwie ist es ja auch grandios –, alles hat man schon mal ausprobiert, nur das nicht: eine eiskalte Erziehung ohne Rührseligkeit und Tränen. Obwohl, was spinne ich mir da zusammen, woher will ich wissen, was für eine Erziehung das ist … Und trotzdem sind die Grausamkeit und die Verachtung nicht zu übersehen. Es wird nichts dabei herauskommen, denn die Vernunft, das Nachdenken, Lernen und Analysieren ist das eine – doch wo bleiben die zärtlichen Mutterhände, die Schmerz stillen und Wärme spenden? Was ist mit dem stachligen Stoppelbart des Vaters, der Krieg spielt oder Tiger und den Kindern das Boxen beibringt, der der Stärkste ist und mehr als alle anderen weiß? Denn das hat es in der Kindheit doch auch gegeben! Nicht nur das laute (oder leise) Gezänk der Eltern, nicht nur den Riemen und das trunkene Lallen, nicht nur das unmotivierte Langziehen der Ohren, dem genauso überraschend Geschenke in Form von Bonbons und Kinogeld folgten. Ja, wer weiß – vielleicht haben sie ein Äquivalent für all das Gute, das Mutter- und Vaterschaft in sich bergen … Wie Irma diesen Nässling angesehen hat! Wie muss man sein, um so angesehen zu werden? Auf jeden Fall aber werden weder Bol-Kunaz noch Irma noch dieser picklige Nihilist jemals ein
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