Gesammelte Werke 6
ausdrucksvoll:
Schönheit, Reichtum und Ränge,
des Lebens hehrste Gepränge
entschwinden, verwehen ungefragt.
O Glück, du trügerisch’ Gewinn!
Am Herzen dein der Zweifel nagt,
und auch der Ruhm ist bald dahin …
Jetzt wusste ich, woher die Stimmen kamen: aus der Ecke mit dem blind gewordenen Spiegel.
»Und nun Folgendes«, sagte eine Stimme. »Das Brahman, fürwahr, war diese Welt zu Anfang … Er ist der unbegreifliche höchste Atman, unausmessbar, ungeboren, unerforschlich, undenkbar ist er … Er ist es, der, wenn das Weltall untergeht, alleine wach bleibt. Und er ist es, der dann (wieder) aus diesem Weltraume das Reingeistige aufweckt …«
»Und woher stammt dieser Schwachsinn?«, fragte ich. Eine Antwort erwartete ich nicht. Ich war fest davon überzeugt zu schlafen.
»Das sind Sprüche aus den ›Upanischaden‹«, antwortete die Stimme bereitwillig.
»Und was sind die ›Upanischaden‹?« Jetzt war ich schon nicht mehr so fest davon überzeugt zu schlafen.
»Weiß ich nicht«, erwiderte die Stimme.
Ich stand auf und schlich auf Zehenspitzen zum Spiegel. Ich sah mich nicht darin. Das trübe Glas spiegelte den Vorhang, eine Ecke des Ofens und viele andere Dinge, aber mein Abbild war nicht darin.
»Was ist los?«, erkundigte sich die Stimme. »Gibt es Fragen?«
»Wer spricht da?«, fragte ich und warf einen Blick hinter den Spiegel. Dort lagen dicke Staubflocken und ein paar tote Spinnen. Ich drückte mit dem Zeigefinger auf mein linkes Auge – ein altes Hausmittel zum Erkennen von Halluzinationen, das ich aus W. W. Bitners anregendem Buch »Soll man daran glauben?« hatte. Sobald man mit dem Finger auf den Augapfel drückt, sieht man – im Unterschied zu Halluzinationen – alle realen Gegenstände doppelt. Diesmal verdoppelte sich der Spiegel, und in ihm erschien mein verstörtes, verschlafenes Äußeres. Ein kalter Lufthauch strich über meine Füße. Ich zog die Zehen zusammen, trat ans Fenster und sah hinaus.
Draußen war niemand, nicht einmal mehr die Eiche. Ich rieb mir die Augen und schaute noch einmal genau hin. Ich erkannte deutlich den bemoosten Brunnen mit dem Haspelrad, das Tor und meinen Wagen am Wegrand. Also schlafe ich doch, dachte ich beruhigt. Da fiel mein Blick aufs Fens terbrett und auf das zerlesene Buch. In meinem letzten Traum war es der dritte Band des »Leidenswegs« gewesen, während ich nun»Das Schaffen von Geisteskranken und sein Einfluss auf die Entwicklung von Wissenschaft, Kunst und Technik« von P. I. Karpow vor mir hatte. Vor Kälte mit den Zähnen klappernd, blätterte ich in dem Buch und sah mir die Farbtafeln an. Dann las ich »Vers Nummer zwei«:
In der Lüfte Ozeanen
ohne Zweck und ohne Ziel
schwebt dahin rasch auf den Bahnen
schwarz ein Spatz im Nebel still.
Lautlos fliegt er durch die Nacht,
nur vom Mondlicht sacht erhellt,
eins mit sich und mit der Welt,
blickt er auf der Fluren Pracht.
Stolz und grimmig, unverstellt,
fliegt vorbei er wie ein Schatten,
seine Schwingen nie ermatten.
Plötzlich wankte der Boden unter meinen Füßen. Ich hörte ein markerschütterndes, langgezogenes Knarren und gleich darauf ein tiefes »Ko-o, ko-o, ko-o«, das an das leise Grollen eines fernen Bebens erinnerte. Die Hütte schaukelte wie ein Boot in den Wellen. Der Hof hinter dem Fenster kippte seitlich weg, und unter dem Fenster schob sich ein riesiges Hühnerbein hervor, das sich in den Erdboden krallte, tiefe Furchen im Gras hinterließ und wieder verschwand. Der Fußboden glitt unter mir fort, ich merkte, wie ich fiel, mit den Händen in etwas Weiches griff, mir die Hüfte und den Kopf anstieß und vom Kanapee rollte. An das mit mir vom Kanapee gerutschte Kissen geklammert, fand ich mich schließlich auf dem Läufer wieder. Im Zimmer war es taghell, und draußen hustete jemand ausgiebig.
»Also«, begann eine wohlklingende männliche Stimme. »In einem fernen Zarenreich lebte einmal ein Zar. Der Zar hieß … hm, äh … Na, ist ja auch egal. Sagen wir, hm, äh … Poluekt … Und dieser Zar hatte drei Söhne. Der erste … äh … Der dritte war ein Dummkopf, aber der erste?«
Geduckt wie ein Soldat im Kugelregen schlich ich zum Fenster und lugte hinaus. Die Eiche war an Ort und Stelle. Mit dem Rücken zu ihr stand, ganz in Gedanken versunken, Kater Wassili auf den Hinterpfoten. Zwischen den Zähnen hielt er eine Seerose. Der Kater starrte vor sich hin und ließ ein langgezogenes »Hm-äh …« hören. Dann schüttelte er den Kopf, legte die
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