Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
nachdem nun der Gegenstand meiner Unruhe meinen Blicken entzogen war, griff ich begierig nach dem Büchlein, das die Gemälde und ihre Geschichte behandelte. Ich schlug die Nummer auf, die das ovale Porträt führte, und las dort die wunderlichen Worte:
    »Sie war ein Mädchen von seltenster Schönheit und ebenso heiter und lebensdurstig wie liebreizend. Und übel war die Stunde, da sie den Maler sah und liebte – den sie heiratete. Er: leidenschaftlich, gelehrt, ernst und finster, seiner Kunst wie einer Geliebten zugetan; sie: ein Mädchen von seltenster Schönheit und ebenso heiter und lebensdurstig wie liebreizend; ganz wie ein junges Reh nur Licht und Lächeln und spielende Heiterkeit, liebte sie alle Dinge, liebkoste alle Dinge und hasste nur die Kunst, ihre Rivalin, verabscheute nur Palette und Pinsel und alle die Dinge, die ihr die Neigung des Geliebten streitig machten.
    Schrecklich war es für sie, als der Maler den Wunsch aussprach, sogar sie, sein junges Weib, porträtieren zu wollen. Aber sie war demütig und gehorsam und saß geduldig viele Wochen lang im hohen dunklen Turmzimmer, in das nur von oben her ein bleiches Licht hereinkroch. Er, der Maler, trank Seligkeit aus seinem Werk, das fortschritt von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag. Und er war ein leidenschaftlicher und wunderlicher und launischer Mann, der sich in Phantasien ganz verlieren konnte. Und er wollte nicht sehen, dass der gespenstische Lichtschein in dem alten einsamen Turm Gesundheit und Lebenswillen seiner jungen Frau aufzehrte.
    Sie siechte hin, doch sie lächelte noch immer – und immer ohne zu klagen; denn sie sah, dass ihr Mann, dieser berühmte Maler, eine glühende, eine unsagbare Freude aus seiner Arbeit schöpfte und Tag und Nacht danach rang, das Bild zu vollenden – das Bild von ihr, die ihn hingebend liebte und täglich teilnahmsloser und schwächer wurde. Und in Wahrheit: mancher, der das Porträt sah, rühmte in leisen Worten seine Ähnlichkeit – und es war, als rede man von einem seltsamen, machtvollen Wunder, das ein Beweis sei sowohl für das Können des Malers wie für seine tiefe Liebe zu ihr, die er so über die Maßen gut getroffen habe. Aber schließlich, als die Arbeit ihrer Vollendung näher rückte, wurde niemand mehr im Turmzimmer vorgelassen; denn der Maler war fast toll vor brünstigem Arbeitseifer und wandte nur selten die Augen ab von der Leinwand und sah selbst seinem Weib nur selten noch ins Antlitz. Und er
wollte
nicht sehen, dass die blühenden Farben, die er auf die Leinwand strich, den Wangen der Geliebten, die neben ihm saß, entzogen wurden. Und als viele Wochen vergangen waren und nur noch wenig zu tun übrigblieb, nur noch ein Pinselstrich am Mund, ein Glanzlicht am Auge, da flackerte das Lebensverlangen des jungen Weibes noch einmal auf, wie die Flamme in der erlöschenden Lampe noch einmal aufflackert. Und dann war der Pinselstrich gemacht und das Glanzlicht angebracht, und einen Augenblick stand der Maler entzückt vor dem Werk, das er geschaffen hatte. Im nächsten Augenblick aber begann er zu zittern und erbleichte und rang nach Atem, und ohne den Blick von seinem Werk abzuwenden, schrie er laut auf: Wahrlich, das ist das lebendige Leben selber! Und er wandte sich um, seine Geliebte anzusehen. – Sie war tot.

Die Maske des Roten Todes
    Lange schon wütete der Rote Tod im Land; nie war eine Pest verheerender, nie eine Krankheit grässlicher gewesen. Blut war der Anfang, Blut das Ende – überall das Rot und der Schrecken des Blutes. Mit stechenden Schmerzen und Schwindelanfällen setzte es ein, dann quoll Blut aus allen Poren, und das war der Beginn der Auflösung. Die scharlachroten Tupfen am ganzen Körper der unglücklichen Opfer – und besonders im Gesicht – waren des Roten Todes Bannsiegel, das die Gezeichneten von der Hilfe und der Teilnahme ihrer Mitmenschen ausschloss; und alles, vom ersten Anfall bis zum tödlichen Ende, war das Werk einer halben Stunde.
    Prinz Prospero aber war fröhlich und unerschrocken und weise. Als sein Land schon zur Hälfte entvölkert war, erwählte er sich unter den Rittern und Damen des Hofes eine Gesellschaft von tausend heiteren und leichtlebigen Kameraden und zog sich mit ihnen in die stille Abgeschiedenheit einer befestigten Abtei zurück. Es war dies ein ausgedehnter prächtiger Bau, eine Schöpfung nach des Prinzen eigenem exzentrischen, aber vornehmen Geschmack. Das Ganze war von einer hohen, mächtigen Mauer umschlossen, die eiserne Tore

Weitere Kostenlose Bücher