Gesammelte Werke
es schwer sein, eine andere Bezeichnung dafür zu finden. Lassen Sie uns nur dies eine annehmen, dass die Seele des Menschen von heute an der Schwelle unerhörter psychischer Entdeckungen steht. Lassen Sie uns Genüge finden in dieser Annahme. Im Übrigen kann ich einige Erklärungen geben. Hier ist eine Aquarellzeichnung, die ich Ihnen schon früher gezeigt haben sollte, doch hielt mich bisher ein unerklärliches Gefühl des Grauens davon ab.«
Wir blickten auf das Bild, das er uns zeigte. Ich sah daran nichts Bemerkenswertes; auf Bedloe aber schien es ganz seltsam zu wirken. Er blickte darauf – und schien einer Ohnmacht nahe. Dabei war es nichts weiter als ein Miniaturporträt – ein wundersam ähnliches allerdings – seiner eigenen auffallenden Gesichtszüge. Das wenigstens war mein Gedanke beim Anblick des Bildes.
»Beachten Sie bitte«, sagte Templeton, »das Datum des Bildes – es steht hier in dieser Ecke – kaum erkennbar – 1780. In diesem Jahr wurde das Bildnis angefertigt. Es ist das Abbild eines toten Freundes von mir – eines Herrn Oldeb –, an den ich mich seinerzeit in Kalkutta während der Regierung Warren Hastings’ sehr anschloss. Ich war damals erst zwanzig Jahre alt. Als ich Sie in Saratoga zum ersten Mal sah, Herr Bedloe, war es die wundersame Ähnlichkeit zwischen Ihnen und dem Bildnis, die mich veranlasste, Sie anzureden, Ihre Bekanntschaft zu suchen und danach zu trachten, dass Sie mich zu Ihrem beständigen Begleiter machten. Zu letzterem trieb mich teilweise – und vielleicht hauptsächlich – ein leidtragendes Gedenken an den Dahingegangenen, teilweise aber auch eine seltsame, unruhige Neugier in Bezug auf Sie selbst.
In Ihrer Schilderung der Vision, die Sie inmitten der Berge hatten, haben Sie bis ins kleinste genau die indische Stadt Benares am Ufer des heiligen Stroms beschrieben. Der Aufruhr, die Kämpfe, das Blutbad waren tatsächliche Begebenheiten im Gefolge des Aufstandes unter Cheyte Sing, der sich 1780 ereignete und Hastings in Todesgefahr brachte. Der Mann, der sich an der Turban-Strickleiter herabließ und flüchtete, war Cheyte Sing selbst. Die Leute im Kiosk waren Sipahis und britische Offiziere unter Hastings’ Anführung. Zu diesen zählte auch ich, und ich tat, was ich nur konnte, um den voreiligen und verhängnisvollen Ausfall des jungen Offiziers zu verhindern, der dann in den überfüllten Straßen durch den vergifteten Pfeil eines Bengalen getötet wurde. Dieser Offizier war mein liebster Freund. Es war Oldeb. Und nun sehen Sie hier (der Sprecher hielt ihm ein Notizbuch hin, in dem sich mehrere frischbeschriebene Seiten befanden) – an dieser Niederschrift können Sie ersehen, dass genau zur selben Zeit, als Sie in den Bergen alle jene Dinge zu erleben glaubten, ich hier zu Hause damit beschäftigt war, sie schriftlich festzuhalten.«
Etwa eine Woche nach diesem Gespräch erschien in einer Zeitung von Charlottesville folgende Notiz:
»Wir erfüllen die traurige Pflicht, von dem Ableben Herrn August Bedlos Kenntnis zu geben. Er war ein Mann, den sein tugendhafter Charakter und liebenswürdiges Wesen den Bürgern von Charlottesville lieb und teuer gemacht haben.
Herr Bedlo war vor einigen Jahren neuralgischen Anfällen unterworfen, die ihn oft dem Tode nahe brachten, doch kann dies nur als die mittelbare Ursache seines Ablebens angesehen werden. Die unmittelbare Veranlassung war äußerst seltsam. Bei einem vor einigen Tagen unternommenen Ausflug in die Ragged Mountains holte er sich eine leichte Erkältung, die von Fieber und Blutandrang zum Gehirn begleitet war. Zur Behebung des letzteren schritt Dr. Templeton zur Anwendung von lokalem Aderlass. Man setzte dem Kranken Blutegel an die Schläfen. In erschreckend kurzer Zeit starb der Patient. Man stellte fest, dass in die Schüssel, die die Blutegel enthielt, versehentlich einer jener giftigen wurmartigen Blutsauger hineingeraten war, die hie und da in den benachbarten Weihern gefunden werden. Dieses Tier sog sich an einer Stelle der rechten Schläfe fest; seine große Ähnlichkeit mit dem offizinellen Blutegel war schuld, dass man den Missgriff zu spät gewahrte.
N. B. – Der giftige Blutsauger von Charlottesville unterscheidet sich von dem offizinellen Blutegel durch seine auffallende Schwärze und vor allem durch seine schlangenartigen Bewegungen.«
Ich sprach mit dem Herausgeber der betreffenden Zeitung über den so seltsamen Fall und erkundigte mich auch, weshalb der Name des Verstorbenen
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