Gesammelte Werke
Wahrscheinlichkeit der Täterschaft von der Wahrscheinlichkeit des Vorteils abhängt, der dem Betreffenden entsteht oder der aus der Vollziehung der Tat erwächst. Nun wies in vorliegendem Fall die Frage nach dem »cui bono?« sehr deutlich auf Herrn Kielfeder hin. Denn der Onkel hatte ein Testament zu seinen Gunsten gemacht und ihm dann mit Enterbung gedroht. Die Drohung hatte er aber nicht ausgeführt; es schien, als sei das ursprüngliche Testament nicht geändert worden. Wäre es geändert worden, so hätte sich als einziges mutmaßliches Motiv für den Mord der bekannte Rachedurst ergeben, und selbst dem stand die Hoffnung entgegen, von dem Onkel wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Wenn jedoch das Testament unverändert blieb, die Drohung aber beständig über dem Haupt des Neffen schwebte, so ergibt sich sofort der stärkste Antrieb zu einem Verbrechen: Und so schlussfolgerten höchst weise auch die würdigen Bürger von Schnatterburg.
Demgemäß wurde Herr Kielfeder auf der Stelle verhaftet, und die Menge begab sich nach etlichen weiteren Nachforschungen auf den Heimweg, wobei sie den Beschuldigten gut bewachte. Unterwegs ereignete sich nun noch ein Umstand, der den schon vorhandenen Verdacht nur bestärken konnte. Herr Guterjung, den der Eifer stets dem Trupp um einige Schritte voraneilen ließ, lief plötzlich vor, bückte sich und schien irgendeinen kleinen Gegenstand vom Grasboden aufzuheben. Man sah, wie er ihn rasch betrachtete und halbwegs den Versuch machte, ihn in der Tasche seines Überrocks verschwinden zu lassen; dieses Vorhaben wurde aber, wie gesagt, bemerkt und verhindert, und der gefundene Gegenstand wurde als ein spanisches Dolchmesser erkannt, von dem wohl ein Dutzend Leute wussten, dass es Herrn Kielfeder gehörte. Überdies waren seine Initialen auf dem Handgriff eingraviert. Die Klinge des Messers stand offen und war blutig.
Nun blieb kein Zweifel mehr an des Neffen Schuld, und sogleich nach Ankunft in Schnatterburg wurde er einem Beamten zur Untersuchung vorgeführt.
Hier nahmen die Dinge wiederum eine höchst ungünstige Wendung. Als der Gefangene befragt wurde, wo er sich am Morgen, als Herr Schützenwerth verschwand, aufgehalten habe, besaß er die volle Kühnheit, einzugestehen, dass er an eben diesem Morgen mit seiner Flinte auf den Anstand gegangen sei, in nächster Nähe jenes Teiches, worin man durch die Umsicht des Herrn Guterjung das blutbefleckte Wams entdeckt hatte.
Dieser trat nun vor und bat mit Tränen in den Augen, verhört zu werden. Er sagte, ein strenges Pflichtbewusstsein gegenüber seinem Schöpfer und seinen Mitmenschen gestatte ihm nicht, noch länger zu schweigen. Bisher habe die aufrichtigste Zuneigung zu dem jungen Mann (ungeachtet der schlechten Behandlung, die dieser ihm, Herrn Guterjung, hätte zuteilwerden lassen) ihn veranlasst, alle nur erdenklichen Hypothesen heranzuziehen, um für die Herrn Kielfeder so sehr nachteiligen Verdachtsmomente eine Widerlegung zu finden; diese Umstände seien jetzt aber allzu überzeugend, allzu belastend; er wolle nicht länger zögern – wolle alles sagen, was er wisse, wenngleich sein (Herrn Guterjungs) Herz zu brechen drohe. Er bekundete nun, dass am Nachmittag vor Herrn Schützenwerths Abreise zur Stadt dieser würdige alte Herr in seiner (Herrn Guterjungs) Hörweite zu seinem Neffen geäußert habe, der Zweck seiner Reise in die Stadt sei der, bei der »Farmers and Mechanics Bank« eine ungewöhnlich große Summe zu deponieren, und gleichzeitig habe genannter Herr Schützenwerth genanntem Neffen deutlich seinen unabänderlichen Entschluss zu verstehen gegeben, das ursprüngliche Testament umzustoßen und ihn mit einem Pflichtteil abzufinden. Er (der Zeuge) wandte sich nun an den Angeklagten mit dem feierlichen Ersuchen, zu bekunden, ob das, was er (der Zeuge) soeben ausgesagt habe, in allen wesentlichen Einzelheiten die Wahrheit sei oder nicht. Zum großen Erstaunen aller Anwesenden gab Herr Kielfeder offen zu, es sei die Wahrheit.
Der Beamte hielt es nun für seine Pflicht, ein paar Polizisten mit einer Durchsuchung des Zimmers zu beauftragen, das der Angeklagte im Haus seines Onkels innegehabt hatte. Von dieser Haussuchung kehrten sie fast auf der Stelle mit der wohlbekannten metallbeschlagenen Brieftasche aus rotbraunem Leder zurück, die der alte Herr seit Jahren gewohnheitsmäßig bei sich trug. Ihr Wertinhalt war jedoch verschwunden, und der Untersuchungsrichter bemühte sich vergebens, dem Angeklagten ein
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