Gesammelte Werke
Empfehlungsbrief« sprichwörtlich geworden ist.
Ich habe schon gesagt, dass Herr Schützenwerth zu den achtenswertesten und jedenfalls reichsten Leuten in Schnatterburg gehörte; Karlchen Guterjung aber stand auf so vertrautem Fuß mit ihm, als wäre er sein eigener Bruder gewesen. Die beiden alten Herren waren Nachbarn, und wenngleich Herr Schützenwerth selten oder nie zu Karlchen hinüberging und noch nie bei ihm gespeist hatte, so hinderte das die beiden Freunde doch nicht, in der soeben dargelegten Weise einander nahe zu stehen; denn Karlchen ließ keinen Tag vergehen, an dem er nicht drei, vier Mal nachsah, wie es dem Nachbarn ging, und sehr häufig blieb er zum Frühstück oder Nachmittagstee und fast stets zum Mittagessen. Und es wäre wirklich nur mit Mühe festzustellen, welche Quantitäten Wein die beiden Kumpane in einer Sitzung bewältigten. Karlchens Lieblingsgetränk war Château Margaux, und es schien Herrn Schützenwerths Herz zu erfreuen, wenn er sah, wie der alte Knabe ein Quart nach dem andern davon hinunterspülte. So kam es, dass er eines Tages, als der Wein einverleibt, der Verstand aber ziemlich ausgetrieben worden war, seinem Kumpan auf den Rücken klopfte und sagte: »Höre, Karlchen, du bist, meiner Seel’, der tüchtigste Kerl, der mir meiner Lebtag vorgekommen ist, und da du es liebst, den Wein derart herunterzuschütten, so will ich mich hängen lassen, wenn ich dir nicht nächstens eine große Kiste Château Margaux zum Geschenk mache. Hol mich der Teufel« – Herr Schützenwerth hatte die betrübliche Gewohnheit, zu fluchen, doch ging er glücklicherweise selten weiter als bis zu »alle Wetter« oder »Potztausend noch einmal« – »Hol mich der Teufel«, sagte er, »wenn ich nicht noch heute Vormittag in die Stadt schicke und eine Doppelkiste vom Allerbesten bestelle und dir ein Geschenk damit mache – ja, das will ich! – Du brauchst kein Wörtchen zu sagen – ich will, sage ich dir, und damit ist es erledigt; du kannst sie also erwarten – sie wird eines schönen Tages eintreffen, gerade, wenn du am wenigsten daran denkst!« Ich erwähne diese kleine Freigebigkeit vonseiten des Herrn Schützenwerth nur, um darzulegen, ein wie geradezu inniges Einverständnis zwischen den beiden Freunden herrschte.
Also an dem bewussten Sonntagmorgen, als es bekannt wurde, dass Herrn Schützenwerth übel mitgespielt worden sein musste, ging das niemand so nahe wie Karlchen Guterjung. Als er hörte, dass das Pferd ohne seinen Herrn, ohne die Satteltaschen und mit Blut bedeckt zurückgekehrt sei, mit Blut, das von einer Pistolenkugel herrührte, die dem Tier, ohne es ganz zu töten, durch die Brust gegangen war – als er das alles hörte, wurde er so bleich, als sei der Vermisste sein geliebter Bruder oder Vater, und zitterte am ganzen Leib wie im Schüttelfrost.
Zuerst war er vom Schmerz zu erschüttert, um irgendetwas planen oder unternehmen zu können, lange Zeit vermochte er Herrn Schützenwerths übrige Freunde abzuhalten, etwas in der Sache zu tun; er hielt es für das Beste, abzuwarten – sagen wir ein bis zwei Wochen, oder ein bis zwei Monate –, ob sich nicht etwas herausstellen oder Herr Schützenwerth sich nicht von selbst einfinden und die Gründe auseinandersetzen würde, die ihn veranlasst hatten, sein Pferd vorauszuschicken. Ich gebe zu, man hat diese Neigung zum Zögern, zum Aufschub sehr oft bei Leuten beobachtet, die eine schwere Sorge drückt. Ihre Geisteskraft erlahmt, so dass sie ein Grauen vor aller Betätigung haben und nichts auf der Welt lieber tun, als still im Bett liegen und ihren »Kummer pflegen«, wie die alten Damen das nennen – das heißt, über ihre Sorgen grübeln.
Nun hatten die Leute von Schnatterburg tatsächlich eine so hohe Meinung von der Weisheit und Umsicht »unseres Karlchen«, dass die meisten geneigt waren, ihm zuzustimmen und nichts in der Sache zu unternehmen, bis sich »etwas herausstellen« würde, wie der brave Alte meinte; und ich glaube, man hätte sich schließlich allgemein dahin entschieden, hätte sich nicht der Neffe Herrn Schützenwerths verdächtigerweise eingemischt, ein junger Mann von liederlichen Gewohnheiten und durchaus schlechtem Charakter. Dieser Neffe, Kielfeder mit Namen, wollte hinsichtlich des »Abwartens« keine Vernunft annehmen und bestand auf einer sofortigen Suche nach »der Leiche des Ermordeten«. Das war der Ausdruck, den er gebrauchte, und Herr Guterjung bemerkte sehr richtig, es sei eine »sonderbare
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