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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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unbestimmbarer Schatten hervor – ein Schatten, wie ihn der Mond, wenn er tief am Himmel steht, aus der Gestalt eines Menschen bilden mag; aber es war weder der Schatten eines Menschen noch der Schatten eines Gottes oder irgendeiner vertrauten Sache. Er durchzitterte eine Weile die Vorhänge im Raum und kam schließlich auf der Fläche der erzenen Pforte in voller Sicht zur Ruhe.
    Doch der Schatten war flüchtig und formlos und unbestimmt und war keines Menschen und keines Gottes Schatten – nicht eines Gottes der Griechen noch eines Gottes der Chaldäer noch irgendeines ägyptischen Gottes. Und der Schatten ruhte auf der erzenen Pforte und unter dem Bogen des Türgebälks und rührte sich nicht, sprach kein Wort, sondern ließ sich dort nieder und verblieb da. Und das Tor, auf dem der Schatten ruhte, war, wenn ich mich recht erinnere, genau gegenüber den Füßen des eingesargten jungen Zoilus. Wir aber, die sieben dort Versammelten, die wir den Schatten gewahrt hatten, wie er aus den Vorhängen heraustrat, wagten nicht, ihn anzusehen, sondern senkten die Blicke und spähten beständig in die Tiefen des Ebenholzspiegels.
    Und endlich wagte ich, Oinos, einige leise Worte und fragte den Schatten nach seiner Herkunft und seinem Namen.
    Und der Schatten entgegnete: »Ich bin
Schatten
, und ich hause bei den Katakomben von Ptolemais und dicht an den düsteren Feldern von Helusion, die an die trüben Wasser des Charon grenzen.«
    Und dann sprangen wir sieben erschrocken von unseren Sitzen und standen bebend und schaudernd vor Entsetzen: denn die Klänge in der Stimme des Schattens waren nicht die Klänge irgendeines Wesens, und von Silbe zu Silbe die Laute wechselnd, trafen sie dunkel an unser Ohr im unvergesslichen, vertrauten Tonfall vieler Tausender dahingegangener Freunde.

Vier Tiere in einem
Der Homo-Kamelopard
    Chacun a ses vertus
.
    C RÉBILLONS X ERXES
    Antiochus Epiphanes wird im Allgemeinen als der Gog des Propheten Ezechiel betrachtet. Eigentlich gebührt aber dem Kambyses, dem Sohn des Cyrus, diese Ehre. Und in der Tat hat das Charakterbild des syrischen Monarchen in keiner Hinsicht irgendwelche fremden Verschönerungen notwendig. Seine Thronbesteigung oder, besser gesagt, der Gewaltakt, mit dem er, hunderteinundsiebzig Jahre vor Christi Geburt, die Herrschaft an sich riss, sein Versuch, den Tempel der Diana in Ephesus zu plündern, seine unnachsichtige Feindschaft gegen die Juden, seine Entweihung des heiligsten Heiligtums, sein elender Tod zu Taba nach einer wild bewegten Herrschaft von elf Jahren: All das sind so stark in die Augen fallende Umstände, dass sie von den Geschichtsschreibern seiner Zeit mehr in Betracht gezogen wurden als die gottlosen, feigen, grausamen, albernen und phantastischen Taten, die bei einer klaren Darstellung seines Privatlebens und seines Rufes nicht fehlen dürfen.
    Stellen wir uns nun, teuerster Leser, vor, dass wir uns im Jahr Dreitausendachthundertdreißig befinden. Stellen wir uns für kurze Zeit weiter vor, dass wir uns in der allertollsten Stadt menschlichen Wohnens, im großen Antiochien befinden. Zwar gab es in Syrien und in anderen Ländern sechzehn Städte desselben Namens, außer dem Antiochien, von dem wir hier sprechen. Aber unsrer Stadt ward allgemein der Name Antiochia Epidaphne beigelegt, da sie in der Nähe des kleinen Dorfes Daphne lag, wo der Tempel dieser Gottheit stand. Der Erbauer war Seleukus Nikator (obwohl allerdings darüber Meinungsverschiedenheiten bestehen), der erste König des Landes nach Alexander dem Großen; die Gründung wurde zum Gedächtnis seines Vaters Antiochus so genannt und wurde sogleich die Residenzstadt der syrischen Könige. In den blühenden Zeiten des römischen Kaiserreichs war sie gewohnheitsmäßig der Aufenthaltsort der Präfekten der orientalischen Provinzen. Viele von den Kaisern der weltbeherrschenden Stadt (unter denen wir ganz besonders Verus und Valens nennen wollen) verbrachten hier den größten Teil ihres Lebens. Aber siehe, wir sind ja schon in der Stadt selbst. Wir besteigen die Zinne dort und werfen einen Blick auf die Stadt und ihre Umgebung.
    »Welch breiter und schnell dahinschießender Fluss bahnt sich vor unserem Auge in unzähligen Wasserfällen seinen Weg durch die Bergwildnis und zum Schluss durch das Chaos der Gebäudemassen?«
    »Das ist der Orontes, außer dem Mittelmeer die einzige in Sicht liegende Wasserfläche, die gleich einem ungeheuren Spiegel sich etwa zwölf Meilen südwärts erstreckt.

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