Gesang der Daemmerung
die Neugier, und sie hatte wenig Lust, sich über Mr. Mills’ seltsame Verwandlung Gedanken zu machen. Der weißhaarige Diener hatte die Hunde inzwischen freigegeben und lief den Gästen voran – es war schon erstaunlich, wie flott er in seinem Alter noch auf den Beinen war, denn Marian konnte ihm kaum folgen.
Man durchquerte den grün bewachsenen Vorbau, danach eine düstere Eingangshalle, wo dunkle altmodische Möbel und gewaltige Ölgemälde den Besucher einschüchterten. Dann jedoch öffnete der Alte zwei eingelegte Flügeltüren, und der Blick in einen lichtdurchfluteten Raum wurde frei. Das Erste, was Marian ins Auge sprang, war der Konzertflügel – ein lang gestrecktes Instrument, das ihr in seiner glänzenden Schwärze ungeheuer beeindruckend erschien. In der Einbuchtung des Flügelkorpus stand eine junge Frau im hellblauen, seidig schimmernden Kleid, die wohl gerade eben noch gesungen hatte, denn sie hielt ein Notenblatt in der Hand. Jetzt ließ sie die Noten sinken und blickte den Ankömmlingen leicht verärgert entgegen.
»Na endlich! Da ist sie ja!«
Marian fühlte sich plötzlich klein und hässlich. Wie schön diese Frau doch war, wie geschickt sie ihr braunes Haar aufgesteckt hatte, wie geschmackvoll ihre Aufmachung, das Kleid, die kleinen hellblauen Schuhe, der feine Goldschmuck um ihren Hals! Und wie abschätzig ihre Miene wirkte, während sie Marian von oben bis unten musterte. Erst die kräftige wohltönende Stimme des Professors gab Marian wieder ein wenig Selbstsicherheit zurück.
»Mein liebe Marian – ich freue mich außerordentlich! Komm näher – ich möchte dich meinen Schülern vorstellen!«
Erleichtert tat Marian einige Schritte in den Raum hinein. Die Helligkeit, die dieses Zimmer so angenehm machte, rührte von dem breiten halbkreisförmigen Erker her, dessen Fenster bis auf den Boden hinabreichten und trotz der Wildnis draußen genügend Licht einfingen. Jetzt bemerkte sie auch, dass Sereno nicht allein mit der jungen Sängerin war. Im Halbrund des Erkers waren Stühle aufgestellt, auf denen junge Leute in zwangloser Haltung saßen, Noten, Wasserflaschen oder Teetassen um sich verstreut hatten und der neuen Schülerin neugierig entgegensahen. Ihre Blicke waren recht unterschiedlich: Einige der Damen zeigten Misstrauen, auch eine aufkommende Feindseligkeit, andere schauten eher mitleidig drein, die jungen Herren starrten sie mit unverhohlenem Interesse an.
Professor Sereno hatte sich von seinem Platz am Flügel erhoben, um seine Schülerin zu begrüßen – eine Geste, die ganz offensichtlich selten vorkam, denn Marian entdeckte in den Gesichtern der Schüler größte Verwunderung.
»Marian Lethaby ist gekommen, um sich bei uns ein wenig umzuschauen. Paul, sei ein Kavalier, und besorge einen Stuhl für unseren Gast! Juliette, gib ihr eine Tasse Tee. Millie – du leihst Marian deine Noten, solange sie hier ist …«
Die jungen Herrschaften gehorchten ohne Zögern und mit einer solchen Bereitwilligkeit, dass Marian nur staunen konnte. Kaum zwei Minuten später saß sie bequem auf einem Stuhl, hielt ein Notenheft in der Hand, und eine der gut gekleideten jungen Damen war sich nicht zu schade, ihr eine Tasse Tee einzuschenken.
»Gehört der seltsam gekleidete Diener zu Ihnen?«, flüsterte Juliette, während sie Marian die Tasse hinhielt.
Oh Schreck, sie hatte Mr. Mills völlig vergessen! Er stand immer noch zwischen den halb geöffneten Flügeltüren, starrte mit seltsam feindseligem Blick zu Professor Sereno und schien drauf und dran, in den Raum zu treten, um sich in Marians Nähe niederzulassen. Sie sprang rasch von ihrem Sitz auf und ging zu ihm hinüber.
»Bitte, Mr. Mills! Es wird nicht lange dauern – warten Sie doch in der Halle oder im Garten auf mich.«
Sie hatte leise gesprochen, um ihn nicht vor all den Leuten zu blamieren, doch sie spürte, wie verletzt er war. Nun, er hatte sich selbst in diese Lage gebracht, denn schließlich hätte er wissen können, dass ein Angestellter draußen zu warten hatte. Trotzdem tat er Marian leid, als er jetzt enttäuscht davonschlich.
Was nun folgte, war ein Wechselbad der Gefühle. Professor Sereno lebte für die Kunst des Belcanto, er hatte dieser Passion sein ganzes Leben geweiht, und genau das Gleiche schien er von seinen Schülern zu erwarten. Der Weg dorthin war dornig und die Kunst ganz offensichtlich eine unbarmherzige Herrin, die weder Schwäche noch Fehler durchgehen ließ. Professor Sereno behandelte die
Weitere Kostenlose Bücher