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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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wohlgekleideten adeligen Schüler mit grausamer Strenge, ließ sie die gleichen Passagen unzählige Male wiederholen, kritisierte, schimpfte, beleidigte seine Schüler, verhöhnte sie und stöhnte theatralisch über deren Begriffsstutzigkeit.
    »Wozu gebe ich mir solche Mühe mit dir? Du begreifst es ja doch nicht! Summe! Noch einmal! Spürst du die Vibration in deinem Schädel? Oder spürst du nur die Strohhalme, die dort knisternd gegeneinanderreiben?«
    Marian konnte es kaum fassen, aber diese jungen Leute waren wie Wachs in den Händen des Lehrers. Sie ließen sich demütigen und auslachen, sie vollführten auf sein Geheiß die seltsamsten Gesten und Verrenkungen, brachten Töne hervor, die kaum etwas mit Musik zu tun hatten – ja, die jungen Damen wehrten sich nicht einmal, wenn er ihnen die Hand auf Schultern, Nacken und Bauch legte, um ihre Körperhaltung zu korrigieren! In Schweiß gebadet und den Tränen nahe standen sie vor ihrem Peiniger, und doch genügte ein einziges winziges Lob aus seinem Mund, um ihnen ein glückliches Lächeln zu entlocken.
    Was hat das mit Musik zu tun?, dachte Marian beklommen. Und wieso glaubt er, ihre Stimmen durch solch alberne Übungen zu verbessern? Tatsächlich gab es einige Schüler, die schon recht annehmbar singen konnten, doch in Marians Ohren klang es gekünstelt und schrecklich bemüht. Die Magie, die Serenos Gesang auf Marians Gemüt ausgeübt hatte, besaß keiner seiner Schüler. Aber war er deshalb ein schlechter Lehrer? Seine Schüler zumindest hingen mit großer Ehrfurcht an ihm. Vielleicht brauchte man ja viele Jahre, um so vollkommen singen zu können, wie der Professor es vermochte?
    Marian wusste kaum noch, wie lange sie dagesessen und dem Schauspiel dieses Unterrichts zugesehen hatte. Die Zeit war wie im Flug vergangen, und sie war immer noch nicht sicher, wie sie sich entscheiden sollte.
    »Du findest es grauenhaft, nicht wahr?«, erkundigte die junge Frau sich, die Sereno Juliette genannt hatte. Sie war eine ungewöhnliche Erscheinung, denn ihr Haar war schwarz, und ihre dunklen Augen waren von dichten Brauen überwölbt. Ganz sicher handelte es sich nicht um eine Engländerin.
    »Ich verstehe nicht, wie man sich so behandeln lassen kann.«
    »Der Beruf einer Sängerin ist hart, Marian. Wer weinend zusammenbricht, wenn er ein böses Wort hört, wird sich auf keiner Bühne behaupten können.«
    Das mochte wohl so sein. Vielleicht war es doch nicht so verlockend, diesen Beruf zu ergreifen. Musste sie unbedingt auf einer Bühne stehen? Eigentlich nicht. Sie wollte singen und musizieren, das war alles.
    »Lass dich nicht täuschen, Marian!«, fuhr Juliette lächelnd fort. »Beim Unterricht ist Sereno unerbittlich. Wenn wir aber ein Konzert singen oder an einem Wettbewerb teilnehmen, dann kann er ermutigen und beflügeln wie kein Zweiter. Er ist ein großartiger Lehrer und setzt sich bis zum Letzten für seine Schüler ein.«
    »Tatsächlich?«
    »Aber ja, Marian! Es ist ein Privileg, von ihm unterrichtet zu werden.«
    Sie strich freundschaftlich über Marians Arm, nickte ihr zu und ging dann mit den anderen davon. Nachdenklich blickte Marian ihr nach – Juliette war die Einzige unter all diesen jungen Leuten, die ihr freundlich entgegengekommen war. Auch das machte sie nachdenklich.
    Der Professor selbst schien sie vergessen zu haben. Er saß immer noch am Flügel, und nach all der Plackerei mit seinen begriffsstutzigen Schülern bereitete es ihm nun wohl Freude, für sich allein zu spielen. Leise zuerst, vom Gespräch der davonziehenden Schüler übertönt, nahmen die Klänge nach und nach den Raum ein und umgaben Marian wie ein Schwarm bunter gleißender Sonnenflecken. Dann vernahm sie seine warme Stimme, ein ruhig dahinstrebender Fluss, in den die Fünkchen hineinsanken, um in immer neuen schillernden Farben wieder aus den Fluten emporzusteigen.
    War das die Musik, nach der sie sich sehnte? Klänge, die wie buntes Licht anmuteten, glitzernde Teilchen, die von der Sonne zur Erde herabsanken und im fließenden Wasser ihren Widerschein fanden, farbig dahinströmende, lebendige Helligkeit.
    Unvermittelt beendete er sein Spiel und blickte Marian fragend an.
    »Im September«, sagte sie, ohne sich zu besinnen. »Ich freue mich, Professor Sereno.«
    »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Marian.«
    Als sie durch die düstere Halle lief, verlor die glückselige Stimmung sich ebenso rasch, wie sie entstanden war, und sie fragte sich, wieso sie ihre Entscheidung nun

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