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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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annehmbare Form zu bringen. Als der Wagen schließlich vor einem Tor anhielt, stieg er aus, um Marian den Kutschenschlag aufzuhalten.
    »Soll ich hier warten?«, erkundigte der Kutscher sich.
    »Natürlich!«, gab Mills zurück.
    Es klang energisch, und Marian stellte erneut fest, dass Mr. Mills sehr an Sicherheit gewonnen hatte. Er war einige Schritte zurückgetreten, um sich die hohe mit Zinnen besetzte Mauer anzuschauen, die das Grundstück einschloss. Wer diese massive Ummauerung einst hatte errichten lassen, war ganz offensichtlich auf ein ungestörtes Privatleben bedacht gewesen. Baumkronen ragten über die Zinnen. Von dem mehrstöckigen Haus konnte man nur den Dachgiebel sehen, doch auch dieser war von belaubten Ästen halb verdeckt. Das Tor bestand aus einem kunstvoll geschmiedeten Eisengitter, das man genau in die Maueröffnung eingepasst hatte. Durch die Gitterstäbe hindurch konnte man einen kiesbestreuten Weg erkennen, der ohne Zweifel zum Haus hinüberführte. Er war von verwilderten Rosen und allerlei anderem Gebüsch gesäumt, das lange keinen Gärtner mehr gesehen hatte. Amüsiert stellte Marian fest, dass Jonathan Mills das Gesicht verzog – dieses Anwesen schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen.
    »Ist das auch die richtige Adresse?«, fragte er den Kutscher.
    »Aber natürlich!«, rief Marian. »Hören Sie denn nicht?«
    In der Tat waren jetzt Klänge zu vernehmen: Eine Frauenstimme sang eine kurze Passage, von Klavierakkorden begleitet, dann brach sie mitten in der Melodie ab, und es war einen Augenblick lang still, bis die Sängerin erneut die gleiche Passage begann.
    Mills riss an der Glocke, die neben dem Gittertor hing, und der grelle, scheppernde Klang überdeckte für einen Moment alle anderen Geräusche. Zwei große braune Hunde stürzten zum Tor, sprangen daran hoch und kläfften die Besucher wütend an, dann kam ein Diener gelaufen – ein weißhaariger Alter, der die Hunde am Halsband nahm, und die Tiere beruhigten sich.
    »Miss Marian Lethaby? Marian Lethaby? Lethaby?«
    Er schnarrte die Worte herunter, ohne seine Stimme dabei zu heben oder zu senken – es klang fast wie eine Aufziehpuppe oder wie ein Papagei.
    »Die bin ich«, sagte Marian verwundert.
    »Miss Marian Lethaby? Marian Lethaby? Lethaby?«
    »Ja doch! Ich bin Marian Lethaby …«
    Hilflos sah sie Mills an. Dieser seltsame Alte war entweder nicht ganz richtig im Kopf oder er hielt sie zum Narren.
    »Du musst nicken«, erklärte Mills. »Ich glaube, er ist taub.«
    Mills hatte recht. Als sie jetzt mit einem Kopfnicken bestätigte, Marian Lethaby zu sein, holte der Diener einen Schlüssel hervor und öffnete das Gittertor. Dann zog er sich einige Schritte zurück, um die Gäste vorbeigehen zu lassen, während er die beiden Hunde am Halsband festhielt. Diese Vorsichtsmaßnahme war überflüssig, denn die braunen Wächter schienen eher ängstlich als angriffslustig. Marian glaubte sogar zu bemerken, dass sie zitterten, als Jonathan Mills an ihnen vorüberging.
    Der Garten musste vor Jahren ein Kleinod gewesen sein. Zwischen allerlei Wildwuchs sah man verkrüppelte Zedern und schlanke Pinien, auch zwei zerzauste Palmen kämpften dicht bei der Mauer ums Überleben. In die hübschen Terrakottatöpfe, die nun in Scherben lagen, hatte man wohl einmal Orangen- und Zitronenbäumchen gepflanzt, und das versumpfte Wasserloch war ein romantischer Teich gewesen. Wie schade, dass sich niemand mehr um diesen verlassenen Garten kümmerte!
    Auch das Haus, dem sie sich jetzt näherten, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Es handelte sich um eine dieser rasch hochgezogenen Fabrikantenvillen, ein ehemals protziges Bauwerk mit einem Säulenvorbau und hohen Fenstern. Das Haus eines Mannes, der schnell reich geworden und möglicherweise ebenso rasch wieder in Armut versunken war. Der helle Putz hatte weiße Bausteine vortäuschen sollen, jetzt jedoch war er an vielen Stellen abgebröckelt, und man konnte die schmutzig roten Klinker darunter sehen. Um die Säulen des Vorbaus rankte sich wilder Wein, der bereits das Dach erobert hatte und sich anschickte, die gesamte Villa mit hellgrünem Blattwerk einzuhüllen.
    »Was für ein hübsches Anwesen!«, staunte Jonathan Mills, der hinter Marian her über den Kiesweg ging. »Ein wenig schattig und ungepflegt, aber sicher ein Hort der Kunst.«
    Sie war verblüfft über die Ironie, die sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Doch da jetzt wieder die Sopranstimme und das Klavier zu hören waren, überkam sie
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