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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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war. Dumm, wie er war, hatte er sich nicht hinter den Regalen verkrochen, um dort geräuschlos zu warten, bis sie den Raum verließ. Nein, er hatte neugierig ihre Nähe gesucht, ohne daran zu denken, dass sie seine Nachtschattennatur erspüren würde! Wie energisch sie den Vorhang zurückriss – nur die schlecht befestigte Vorhangstange rettete ihn davor, entdeckt zu werden.
    Später, als er sich mit allerlei Tricks und viel Mühe in den lächerlichen Burschen Jonathan Mills verwandelt hatte, konnte er sehr zufrieden mit sich sein. Nicht einmal die Crincles, die ganz offensichtlich einen guten Instinkt für seinesgleichen besaßen, hatten ihn erkannt. Marian war vollkommen ahnungslos und rührend vertrauensselig. Er war zwar stolz auf die gute Tarnung, aber zugleich hatte er immer wieder den schwachsinnigen Wunsch verspürt, sich ihr in seiner wirklichen Gestalt zu zeigen. Es widerstrebte ihm, tagein, tagaus als ungeschickter Tölpel vor ihr herumzulaufen und noch dazu der mannstollen Pensionatsleiterin schöne Augen machen zu müssen. Zweimal hatte die dürre spitznasige Person versucht, ihn in ihrem muffigen Salon zu verführen, und er hatte sich schrecklich tölpelhaft anstellen müssen, um ihr zu entkommen und dabei nicht aus seiner Rolle zu fallen.
    Zu Anfang hatte er gehofft, durch ein Fenster einen Blick auf Marians Rücken werfen zu können. Deshalb war er unter dem Vorwand, das Dach zu reparieren, dort oben herumgestiegen und hatte sich auf halsbrecherische Weise zu den Fenstern des Waschraums heruntergelassen. Eine schweißtreibende und gefährliche Angelegenheit, bei der ihm schmerzhaft bewusst wurde, dass er in seiner menschlichen Gestalt der Schwerkraft ausgeliefert war. Noch dazu erwies sich aller Aufwand als sinnlos – diese prüden Gören zeigten sich so gut wie niemals unbekleidet! Sogar wenn sie sich wuschen, behielten sie ihre lächerlichen langen Hemden an, auch beim Baden und wenn sie sich umkleideten. Um das Unterhemd zu wechseln, schafften sie es tatsächlich, das frische Hemd über das alte zu ziehen und dann das alte Hemdchen darunter abzustreifen, damit nur niemand sie nackt sehen konnte. Dabei hätte ihn keines dieser blassen Mädchen in unbekleidetem Zustand interessiert – außer einem einzigen.
    Der Lärm, der inzwischen von allen Seiten auf sie eindrang, riss ihn aus seinen Gedanken. Man hörte die Flüche und groben Verwünschungen der Fuhrleute, zornige Befehle, die von den Insassen der Kutschen ausgestoßen wurden. Eine Frau kreischte laut, man hätte sie bestohlen, ein Säugling weinte, mehrere Hunde kläfften. Marian hatte eine Hand an ihre Stirn gelegt und sich vorgebeugt, um aus dem kleinen Seitenfenster des Hansom zu sehen.
    »Wir kommen keinen Schritt voran«, stöhnte sie. »Wie hässlich solch eine große Stadt doch ist! Und wie unfreundlich die Menschen einander behandeln!«
    Er wischte die verdreckte Scheibe auf seiner Seite des Hansom blank und erblickte im nebeligen Grau ein Chaos aus Fuhrwerken, Equipagen und schwarzen Automobilen, die so unglücklich miteinander verkeilt waren, dass sie die Straße rettungslos verstopften. Dazwischen tauchten immer wieder Passanten auf, meist einfache Angestellte, die auf dem Heimweg von der Arbeit waren, hin und wieder ein gut gekleideter Gentleman mit Stock und steifem Hut, dann wieder eine schlampig angezogene Frau, die eine Schubkarre vor sich herschob und lauthals warnte, ihr aus dem Weg zu gehen. Der Nebel roch faulig, er wehte vom Fluss herüber und war eher bräunlich als grau.
    »Ja, da hast du recht, Marian«, sagte er verdrießlich. »Ich frage mich, weshalb der Kutscher ausgerechnet durch Fleetstreet fahren muss – um diese Zeit wäre es besser gewesen, einen Umweg zu nehmen.«
    »Sie kennen sich wohl gut in London aus?«, fragte sie und sah ihn bewundernd an.
    Ihm wurde klar, dass sie seit zwei Jahren wie eine Gefangene in diesem Pensionat eingesperrt war, das sie nur verlassen durfte, um mit den anderen zur Kirche zu gehen. Die Neugier packte ihn – wo war sie wohl aufgewachsen? In London jedenfalls nicht.
    »Ja, ich bin viel herumgekommen«, gab er in lässigem Ton zurück.
    Womit er keineswegs log, nur dass er seine Reisen im Flug vollzogen hatte, ließ er unerwähnt.
    Marian schwieg und lehnte aufseufzend wieder ihren Rücken an. Die Kutsche ruckelte, es schien nun doch wieder vorwärtszugehen.
    »Du bist keine Städterin, oder?«
    »Ich bin eine Landpomeranze«, erzählte sie lächelnd. »Oben in Yorkshire auf

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