Gesang der Rosen
Herr Professor?«
Bonnet wischte sich über die Stirn. Sein Blick erkannte Gegenwart und Umgebung wieder.
»Wissen Sie, mein Junge«, sagte er mit einem immer noch halb entrückten Gesichtsausdruck, »daß bisher von Marcabrun nur ein paar kleine Lieder in der Urschrift bekannt waren, Naturdichtungen mit Minneeinschlag, Schilderungen, die das Allgemeine nicht überschreiten?«
»Das weiß ich sehr wohl, Herr Professor.«
Bonnet nickte, zeigte auf die Pergamente.
»Und nun das hier!« sagte er mit einem seligen Seufzer, brachte aus seinem Jackett seine wohlgefüllte Brieftasche zum Vorschein und zählte dem Küsterjungen, dessen Augen groß und größer wurden, fünftausend Franc auf den Tisch.
»Zufrieden?« fragte nun der Professor.
In den Augen eines Halbwüchsigen, der noch nie einen selbstverdienten Hundertfrancschein in der Hand gehabt hatte, war das eine ungeheure Summe. André schluckte und nickte stumm, den Blick nicht von dem Häufchen Banknoten lassend, das vorläufig auf dem Tisch liegenblieb.
Madame Tergnier hatte von ihrem Posten hinter der Theke aus staunend alles, was sich zugetragen hatte, mitverfolgt. Der Anblick des Geldes war zuviel für sie, es hielt sie nicht mehr länger auf ihrem Platz. Sie glitt aus der Schankstube und kehrte ganz rasch mit ihrem Mann zurück.
Aufgeregt bezogen nun beide Posten hinter dem Tresen. Sie flüsterten miteinander.
»Das sind fünftausend«, teilte sie ihrem Gatten mit. »Ich habe mitgezählt.«
»Fünftausend?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wofür?«
»Für die alten Papiere dort.«
»Und was stellen die dar?«
»Weiß ich nicht«, flüsterte sie. »Es fiel einmal der Ausdruck ›Originale‹. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Originale?« Plötzlich kam dem Schmied eine kleine Erleuchtung. »Weißt du, was ich annehme?«
»Was?«
»Das Ganze hat etwas mit diesen lächerlichen Troubadouren zu tun.«
»Meinst du?« antwortete sie baff erstaunt und nützte sofort die Gelegenheit zu einem ihrer ganz seltenen Angriffe auf ihren Ehetyrannen, die sie sich erlauben durfte. »Von denen hast du doch nie das geringste gehalten!«
»Wer hat denn annehmen können, daß …«
»Ich kann dir sagen, wer«, unterbrach sie ihn. »André Tornerre. Sieh ihn dir an, du hast ihn ja nie gelten lassen.«
Der Schmied steckte das ein. Er kaute stumm auf seiner Unterlippe.
»Sie haben mir aber noch etwas versprochen«, sagte André am Tisch zu Bonnet.
»Daß ich Sie mitnehme nach Paris, ich weiß. Das meinen Sie doch?«
»Ja.«
»Verlassen Sie sich drauf, Sie werden mich begleiten.«
»Dazu hätte ich aber noch eine Bitte …«
»Welche?«
»Sprechen Sie mit meinen Eltern, stehen Sie mir bei. Ich fürchte, die beiden werden mir ihre Erlaubnis zu meiner Reise nicht geben wollen. Sie haben schon zwei Söhne verloren und hängen nun um so mehr an ihrem letzten, der ich bin. Paris scheint ihnen kaum weniger gefährlich zu sein als Verdun.«
»Ganz so unrecht mögen sie nicht einmal haben«, meinte Bonnet lachend. »Aber ich werde Sie im Auge behalten, mein Junge, und das verspreche ich auch Ihren Eltern.«
»Sie erfüllen mir also meine Bitte?«
»Natürlich.«
»Danke.«
Hinter dem Tresen ging das Geflüster wieder los.
»Hast du gehört, Jean, wohin der Junge mitgenommen wird? Nach Paris! Sicher warten dort große Dinge auf ihn.«
»Ach, hör auf, was soll denn auf einen sechzehnjährigen Bengel schon warten?«
»Nun, hier haben jedenfalls schon fünftausend Franc auf ihn gewartet. Wie alt mußtest du werden, bis du eine solche Summe verdient hattest?«
Die Antwort, mit der sich der in Bedrängnis geratene Schmied Luft zu verschaffen suchte, lautete: »Ich bin auch keinem solchen alten Narren wie diesem Bonnet begegnet.«
»Aha.«
»Wo ist Jeanette?« ging Tergnier zu einem anderen Thema über.
»Wieso?«
»Wo ist sie, will ich wissen!«
»Im Weinberg.«
»Was macht sie im Weinberg, verdammt noch mal?«
»Sie hilft beim Spritzen. Dazu hast du sie gestern doch selbst eingeteilt.«
»Hol sie!«
»Warum?«
»Du sollst sie holen, du dumme Gans!«
Madame Tergnier kannte aus Erfahrung, daß jedes weitere Wort von ihr höchste Gefahr für sie herauf beschworen hätte. Sie verschwand.
Kurz danach schickten sich auch Professor Bonnet und André an, den Schankraum zu verlassen.
»André«, sagte der Schmied freundlich wie nie.
»Ja?«
»Jeanette fragt dauernd nach dir. Du vernachlässigst sie, beklagt sie sich neuerdings. Stimmt das, oder
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