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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durch die Seele ziehenden Schatten. Das Schluchzen, das jetzt unter den Händen laut wurde, verstieß den Jungen in die grenzenlose Einsamkeit, in der die Schatten zu Gespielen werden und das Licht zum Störenfried der Ruhe. Ein fremdes, wohliges Gefühl durchrann den knienden André plötzlich, er spürte, wie er in der Einsamkeit, im Dunkel glücklich wurde, wie das Gefühl des Schmerzes und der Trauer einen angenehmen Schauer gebar, und ergriffen von der fremden Wandlung seines kindlichen Gefühls sah er sich plötzlich in eine neue Welt gestellt, in welcher der Schmerz als Lust, das Leid als eine Art von Sinnlichkeit sich zeigten. Der vordem gräßliche Gedanke, außerhalb des Menschlichen zu sein, erweckte plötzlich Ströme wohliger Schauer, und die Erkenntnis, einmal an sich selbst zu zerbrechen, malte in dem gewandelten Gehirn prickelnde Bilder eines im Leiden süßen Unterganges.
    Zwar schien die Sonne morgen wieder über Carpentras, und von den Feldern klangen Lieder, der Mägde Augen sprühten Sinnlichkeit, und an den Hängen reiften schwer und dick die Trauben, doch diese Welt schien jetzt nur noch ein Rahmen, der das wahre Bild der Dunkelheit versüßte, und alle Sehnsucht nach dem Leben, das in der Sonne reifte, war nur ein schnelles Lächeln gegen die Gewalt der Sinne, die aus den Schatten in die Seele stiegen.
    André Tornerre atmete rasch. Er hob den Kopf, griff, noch kniend, in den Taufstein und nahm die Pergamente wieder in die Hand. Dann stand er auf, legte die Rolle zurück in das Bronzekästchen und ließ den Deckel mit einem lauten, hohlen Schlag zufallen.
    »Ich werde es tun«, sagte er halblaut und wandte sich nach dem Mosaik um. »Ich muß es einfach tun. Ich kann nicht anders.« Mit einer fast herrischen Bewegung strich er sich die Haare aus der Stirn und wölbte den eingesunkenen Brustkorb heraus. »Ich will den Menschen zeigen, daß ihr Urteil nur Borniertheit ist, mit klugen Worten kostümierte Dummheit. Man lese einer großen Anzahl namhaftester Kritiker Gedichte unbekannter junger Autoren vor und füge in sie unbemerkt zwei Verse von Hugo, Lamartine, Beranger oder Baudelaire ein – das Urteil wird vernichtend sein, weil man an junge Dichter dachte, und die Beschämung bleiern, wenn die rechten Namen fallen. Warum? O Welt – warum? Ist denn der Name mehr als das Können? Muß ein Gedicht Baudelaires, nur weil es von ihm ist, mehr, größer, meisterhafter sein als die Verse eines Unbekannten, der ihn übertrifft? Warum muß stets das Neue sich am Ruhm des Alten brechen? Warum ist nicht die Wahrheit Richter, sondern die Gewohnheit? Man ruft: ›Es gibt keinen Hugo, keinen Racine, keinen Corneille mehr, es gibt nur einen Goethe, Schiller, Kleist, nur einen Shakespeare, Byron, Calderón und Dante!‹ – Nein! Nein!« André schrie es, daß hallend sich der Ton an den dicken, feuchten Mauern brach. »Es gibt sie! Aber ihr, ihr Menschen tretet sie in den Staub, weil euer Bild der Tradition gefährdet ist. Es gibt Genies – sie suchen nachts am Montmartre ihre Nahrung aus dem Müll. Es gibt die Erben unserer Großen – sie hausen unterm Dach und sterben an der Schwindsucht. Und nur, weil ihr nicht wollt, daß man die Pietät verletzt und sagen muß: Der Demoulin ist größer als Molière. Euch ist es undenkbar, daß man in diese Sphären greifen kann, und um alte Größe zu erhalten, opfert ihr das neue, strebende Genie. O Mörder! Mörder! Mörder!«
    André verstummte. Er hielt das Bronzekästchen an die Brust gedrückt und starrte mit flammenden Augen in die Dunkelheit.
    »Ich werde euch beweisen, was ich kann«, schloß er. »Als Marcabrun will ich euch zeigen, welche Hohlheit euch regiert. Mögt ihr es Wahnsinn, Überheblichkeit und Verbrechen nennen – stets wurde der erdrosselt, der die Dummheit der Menschen entlarvte.«
    Mit spitzen Lippen blies er die Kerze aus, knickte sie von ihrem Wachsbett und stieg die Treppe hinauf, huschte durch das Kirchenschiff, verschloß die äußere Tür und verharrte im Schatten des Torbogens.
    Mit einem langen Blick spähte er über den schwach schimmernden Sand des stillen Marktes, dann setzte er sich wieder in Bewegung und tauchte im Schatten der Zypressen unter.
    *
    Am nächsten Morgen saß André wieder in dem verlassenen Garten des tauben Foulière hinter der Hecke in der alten, halbverfallenen Laube, an deren Tür er von Jeanette verlacht worden war, als er gesagt hatte, er sei ein Dichter.
    Auf dem alten, von ihm vorher sorgfältig

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