Gesang der Rosen
ebbte das erregte Stimmengewirr ab. Der Raum leerte sich. Vor wenigen Minuten noch war er gefüllt gewesen mit einem erlauchten Publikum, mit Hunderten der prominentesten Franzosen, mit Damen und Herren der Wissenschaft, mit Leuten der Presse, des Rundfunks, des Films, des Theaters, mit Professoren, Studenten, Forschern, Mitgliedern der Regierung und des Parlaments.
Nun wurde es still in dem Riesensaal, und zurück blieb nur noch ein einziger Mann – jener, um den sich zuvor alles gedreht hatte: Julien Bonnet.
Er wirkte erschöpft. Die lange Rede, die er gehalten hatte – es war mehr ein Vortrag gewesen –, hatte ihn ausgelaugt. Der Jüngste war er ja auch nicht mehr – nur noch der Größte! Der war er allerdings mit Sicherheit. Gerade die Bewunderung und die Begeisterung, die ihm hier entgegengeschlagen waren, hatten ihm das bewiesen. Er lehnte am Rednerpult, von dem sich zu trennen ihm immer noch nicht leichtfiel, und putzte umständlich seine Brille. Der Frack, in dem er steckte, und die steife, weiße Hemdbrust hatten einiges von dem starken Schweiß abbekommen, der ihm am ganzen Körper aus den Poren gedrungen war. Höhepunkte des Lebens sind nun mal mit Aufregung verbunden – und Aufregung mit Transpiration.
Sorgfältig schob Bonnet nach dem Putzen seiner Brille die losen Blätter seines Manuskripts auf dem Pult zusammen, steckte sie in eine Kollegmappe und ging dann zu einem der Stühle in der ersten Reihe, auf den er sich setzte. Das war nicht ohne Bedeutung. Professor André Bourguet, der sogenannte ›Papst‹ der einschlägigen Literatur aus dem Süden Frankreichs, hatte vorher diesen Platz eingenommen gehabt.
Ach ja – der Süden Frankreichs! Jetzt in der Sonne liegen, im weißen Sand von Nizza, das blaue Meer vor Augen, den blauen Himmel darüber, im Ohr das Rauschen der Wellen mit ihren tanzenden weißen Schaumkronen. Liegen und nichts tun, dachte Bonnet und schloß die Augen, nur liegen und unter der prickelnden Haut den heißen, fast pulvrigen Sand fühlen, liegen und dem Gesang des Meeres lauschen, das wäre jetzt schöner als alles andere … auf alle Fälle erholsamer, schränkte er etwas ein. Und André Bourguet ist, fiel ihm ein, vier Jahre älter als ich. Höchste Zeit, daß er seinen Stuhl räumt …
Morgen also würde es in allen Zeitungen stehen …
Im ›Figaro‹, in ›Le Monde‹, aber nicht nur in französischen, sondern auch in ausländischen Blättern. In allen Überschriften auf den Feuilletonseiten würde sich sein Name finden.
›Julien Bonnet entdeckte …‹
›Julien Bonnet fand …‹
›Julien Bonnet sagte …‹
Das Fernsehen würde nicht beiseite stehen können, der Funk auch nicht. Und die Académie Française, das erlauchteste Gremium Frankreichs, wohl ebenfalls nicht mehr lange.
Die Haupteingangstür wurde geöffnet. Bonnet hörte es und drehte sich um. Ein Reporter, der draußen gelauert hatte und dem das Warten auf Bonnet zu lange gedauert hatte, blickte suchend in den Saal, entdeckte den Professor und eilte auf ihn zu.
Seine erste Frage bestand in einem einzigen Wort. »Überwältigt?«
»Wieso?« antwortete Bonnet. Wenn hier jemand überwältigt zu sein hatte, dann nicht er, sondern alle anderen.
Überwältigt von Julien Bonnet!
»Wer sind Sie überhaupt?« fragte er den Zeitungsmenschen ungnädig.
Der Reporter war von ›Le Canard‹, der berühmten satirischen Zeitschrift Frankreichs. Als Bonnet das erfuhr, wurde er merklich freundlicher. Die Leute von diesem Organ waren mit Vorsicht zu genießen. Ihnen fehlte es an jeder Ehrfurcht. Ihnen war nichts heilig. Sie zerrissen notfalls alles und jeden in der Luft.
»Ich kann Ihnen leider nur wenige Minuten zur Verfügung stehen«, sagte Bonnet, »Sie wissen …«
»Ich weiß, der Empfang im ›Ritz‹«, fiel der Reporter ein, »ich habe auch nur noch eine Frage: Mußten Sie sich den Frack leihen oder nicht?«
»Leihen.«
»Besitzen Sie keinen eigenen? Oder haben Sie seit Ihrer Hochzeit zehn Kilo zugenommen?«
»Sechs Kilo.«
»Was haben Sie bis zu Ihrer Aufnahme in die Académie Française vor: einen neuen Frack erwerben – oder wieder einen ausleihen – oder sechs Kilo abnehmen?«
»Letzteres.«
»Viel Vergnügen. Danke.«
Dieses Interview wurde von ›Le Canard‹ in der nächsten Ausgabe wahrhaftig gebracht. Kein Wort über Literatur, Marcabrun, sechs Lieder usw. Sechs Kilo waren denen wichtiger. Typisch ›Le Canard‹! Nichts war denen heilig. Armes Frankreich, dachten die vielen,
Weitere Kostenlose Bücher