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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vorbei, hinter der sich André versteckt hielt, und blieb nur einen Augenblick in unmittelbarer Nähe des Baumes stehen, als ein Taubenschwarm aus dem Garten des Abbés Bayons aufflatterte und den Kirchturm umkreiste.
    Der graue Spitzbart Marcel Tornerres war mit vielen silbernen Fäden durchsetzt, und die Falten um seine kleinen Augen waren zu tiefen Runzeln geworden, die das Gesicht wie Risse durchzogen. Die Lippen waren schmal und enger geworden, blutleerer und lebloser. Sein Gang, vor kurzem noch relativ sicher, wirkte schwankend, als mache es ihm Mühe, die Beine voreinander zu setzen. Und das alles nach so kurzer Zeit!
    André starrte seinem Vater nach, ungläubig, entsetzt, schuldbewußt, zitternd und frierend in der Glut des Mittags. Irgend etwas, vielleicht ein Schrei oder auch nur ein Röcheln, würgte in seinem Hals und ließ ihn dauernd schlucken, während er fühlte, wie sein Mund trocken wurde.
    »Wenige Tage«, flüsterte er, »wenige Tage nur … Vater, wie bist du in wenigen Tagen gealtert.«
    Etwas Feuchtes rann ihm über das Gesicht, und plötzlich wußte er, daß er weinte, lautlos, ohne Schluchzen … die Tränen flossen einfach aus seinen aufgerissenen Augen, ungehemmt, still, weil das Herz blutete.
    »Vater«, sagte der Junge leise, »armer, armer Vater.«
    Der alte Küster hatte das Haus des Abbé erreicht, verschwand darin, kam bald wieder zum Vorschein, ging zur Kirchentür, schloß sie mit dem Schlüssel, den er in der Hand trug, auf und trat in den Turm, die Pforte hinter sich offenlassend. Mit einigen Sprüngen war André auf den Stufen, schlich auf Zehenspitzen über die Schwelle, sah seinen Vater zur Glöcknerstube emporsteigen und folgte ihm vorsichtig die abgetretenen Steinstufen hinauf zum Glockenseil.
    Der alte Tornerre hatte unterdessen auf seine Taschenuhr aus Nickel geblickt, sich den Schweiß mit einem großen Sacktuch vom Gesicht gewischt und wollte nun zum Seil greifen. In diesem Augenblick legte sich von hinten eine schmale, braune Hand auf seinen Arm, drückte diesen zur Seite und ergriff selbst das dicke, uralte Seil.
    »André!« rief der Alte, noch bevor er sich umdrehte, denn es mußte André, sein ihm wiedergegebener Sohn, sein. Er kannte doch diese Hand … mein Gott, André war also zurückgekehrt, das Leben gab ihn ihm wieder, ihm, dem Vater, der gewartet hatte, Tag für Tag und Nacht für Nacht, der gehofft, gebangt und gebetet hatte, ja, auch gebetet, denn er hatte es gerade in diesen Stunden mit betäubender Macht gefühlt, daß es einen Gott gibt, der trösten und Kraft geben kann. Und nun diese Hand am Glockenseil, diese schmale, braune und doch kräftige Hand, die am Seil zu ziehen begann, so daß der erste Ton der Glocke hinausschwang, hell, jubelnd. Von den Hügeln jauchzte das Echo zurück.
    »André!« rief da der Alte noch einmal, drehte sich um und sah seinem Sohn in die blanken, glücklichen Augen. »André, daß du wieder da bist … Daß du an Vater und Mutter dachtest … Daß dich uns die Welt nicht ganz nahm … André, laß uns Gott loben!«
    Und er griff mit beiden Händen auch zum Seil und zog und zog, und die Glocke jubelte in die Sonne hinauf, geweckt durch die gemeinsame Kraft des Vaters und des Sohnes, und es war, als würden die Seelen der beiden mitschwingen, vereint und wissend, daß das Schicksal gnädig war in dieser Stunde.
    Als sie den Mittag ausgeläutet hatten und das Glockenseil losließen, faßte Marcel seinen Sohn unter und trat mit ihm an eines der kleinen Fenster, welche die dicke Mauer des Turms durchbrachen. Weit ging ihr Blick in das sonnige Land hinaus, reichte bis zum blassen, im Dunst verschwimmenden Horizont. Und die endlose Weite, die früher lockend um die Seele Andrés warb, schrumpfte nun zusammen und wurde klein, war nicht mehr ausgestattet mit irgendeiner Kraft der Verführung.
    »Das alles hast du gesehen«, sagte Marcel Tornerre leise und drückte den Arm seines Sohnes an sich. »Und noch weiter bist du gefahren – über Avignon bis zum fernen, strahlenden, herrlichen Paris. Dein Traum, für den du alles geben wolltest, ging in Erfüllung. Sieh, und nun bist du doch zurückgekommen in das kleine, heiße, stille, unbedeutende Carpentras … nicht nur, weil hier deine Mutter und ich wohnen, nicht nur, weil du an Jeanette dachtest, nein, weil alles, was du sahst, und wenn es die ganze Welt gewesen wäre, nicht schöner sein kann als der kleine Flecken, der dein Heimatort ist. Du kannst unter Palmen liegen – zum

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