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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schlief in seiner Ecke ein aufgeschossener, blasser Junge. Beide wußten voneinander nichts, und das war gut so, denn sonst wäre der Sechzehnjährige vielleicht in Panik verfallen und aus dem fahrenden Zug gesprungen.

3
    Über Carpentras brütete die Sonne und dörrte das Gras auf den Hügeln, zogen die Bauern am Morgen aufs Feld, still, ernst und gehärtet in der Glut des Sommers, und wurden lustig und frei in den Bewegungen, wenn sie das eigene Land unter den Füßen spürten. Es lachten die Mädchen, und sie sangen mit trällernden Stimmen vom fahrenden, liebenden Ritter, während sie an die Zärtlichkeiten des Liebsten dachten, der irgendwo auf einem anderen Feld in der Sonne arbeitete. Das ganze Leben in der Provence, seit Jahrhunderten nur äußerlichen Veränderungen unterworfen, war natürlich nicht anders oder weniger schön und heimatlich geworden, als der Küsterjunge André Tornerre nach seiner relativ kurzen Abwesenheit aus der kleinen Lokalbahn stieg, die ihn von Avignon wieder nach Carpentras gebracht hatte. Das erste, was er sah, waren der alte, eckige Turm der Kirche, das getünchte Haus des Abbés François Bayons, die dunklen Zypressen des Marktplatzes und die Blumen an den Fenstern des im Schatten liegenden Küsterhauses. Wie immer in diesen heißesten Stunden des Tages war der Platz leer. Der weißgelbe Sand blendete in der Sonne, und aus einem offenen Fenster – es mußte das der Schneiderin Jeanine sein – klang ein lustiges Lied und wurde vom Klappern von Tellern und Schüsseln ein wenig unharmonisch begleitet.
    Es ist ja Mittagszeit, dachte André Tornerre und blieb stehen, auf das Klappern des Porzellans lauschend, als sei es eine süße und betörende Melodie. Die gute Jeanine hat abgewaschen und trocknet nun das Geschirr ab. Wie selbstverständlich das alles ist, wie genau und festgefügt … seit Generationen immer das gleiche, man kennt gar nichts anderes … das Leben geht weiter, und doch steht es in Wahrheit still.
    Er schritt über den Platz zum Turm der Kirche, stieg die vier Stufen zur Pforte hinauf, klinkte an der Tür, fand sie verschlossen und lächelte nickend, denn es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn sein Vater vergessen hätte, die Tür abzusperren. Und ebenso sicher war es, daß jetzt der Abbé Bayons in seinem Taubenschlag hinter dem Haus die Kröpfer fütterte. André konnte es von hier aus nicht sehen, aber das Gurren der Tauben und das Schlagen ihrer Flügel verrieten ihm, daß der Stundenplan des Lebens in Carpentras eingehalten wurde.
    Langsam stieg er die vier Stufen wieder hinunter und war sich unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Um ihn herum wiegten sich raschelnd die Zypressen im heißen Wind, der wie ein neckender Gruß in den Locken des Jungen spielte. Und André strich sich durch die Haare, als wolle er den Wind fassen und streicheln.
    Selbst du bist noch da, alter, lieber, heißer Wind, dachte er. Willst du mich wieder trösten, wenn mich die Menschen von sich stoßen? Wartest du wieder auf mich oben auf der Kuppe meines Hügels, von dem aus man die Rhône sieht, wie sie mit dem Himmel verschmilzt? Wo das Land in den heißen Strahlen flimmert und die Erde vor Wärme dampft? Wo die Sehnsucht mit den Wolken zieht und das Blau des Himmels wie ein Meer ist, in dem man fröhlich ertrinken kann?
    Lächelnd fuhr André mit den Händen durch die Luft und tat, als habe er den Wind gefaßt.
    »Trag mich zu meinem Hügel«, rief er leise. »Entführ mich in meine Welt, in der ich allein glücklich und frei bin. Oder nein – warte, liebster Freund, bis ich selbst zu dir komme. Ich habe dir viel zu sagen, und du mußt mich wieder trösten …«
    Am Küsterhaus klappte eine Tür. Mit ein paar langen Sprüngen verschwand André hinter einer Zypresse und lugte am Stamm vorbei auf den Markt. Dort ging Marcel Tornerre, einen großen Schlüssel in der Hand, zur Kirche, vorher aber noch zum Haus des Abbé, um von ihm die neuen Lieder zu erbitten, denn morgen war ja Sonntag, und Marcel Tornerre mußte neben dem Läuten der Glocke auch das Spielen der kleinen Orgel besorgen. Da war es nützlich, noch ein wenig zu proben, denn die alten Finger wurden von Sonntag zu Sonntag steifer und mußten durch Übungen an den Tasten den Melodien der Lieder wenigstens einigermaßen nahekommen.
    Ein wenig steif schlurfte er über den Platz, ohne sich umzublicken, denn er wußte ja im voraus, daß weder Mensch noch Tier um diese Zeit den Markt bevölkerte. Er kam an der Zypresse

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