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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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interessiert. Vielleicht ist Menschsein nur ein Gang durch die Verzweiflung, und jenseits des Zusammenbruchs beginnt die Welt des Erträglichen. Ich bin ein Mensch, der nur für Ideale lebt und sie weitergeben will, aber man braucht Ideale nicht mehr. Deshalb braucht man auch mich nicht mehr den Menschen. Von der Wirklichkeit der Träume sprach ich einst … die Wirklichkeit des Todes vergaß ich, und das war mein Fehler. Du hast so recht, mein Bruder, dein Spruch ist ja so wahr, nur etwas lang und unmodern. Es muß nicht heißen: Verachte, daß du verachtet wirst, sondern viel schöner ist, nur zu sagen: verachte!«
    Langsam erhob sich der Junge, tappte durch die Schatten des Zimmers und tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter. Eine matte, kleine Birne leuchtete auf und erhellte nur trübe den Raum, so daß er noch trostloser, öder und beklommener auf die Seele drückte als in der fahlen Dämmerung des Abends oder Morgens. Aus einem kleinen Schrank nahm André Tornerre seinen billigen schmalen Handkoffer aus braun gefärbter Pappe mit Nickelecken, stopfte seine Wäsche und ein paar alte Bücher, die er bei einem fliegenden Händler am Etoile gekauft hatte, hinein, ging noch einmal zum Spiegel über der weißen Kommode, glättete mit den Händen seine ungebärdigen Haare und begab sich dann zur Tür, drehte sich auf der Schwelle ein letztes Mal um, überblickte den Raum, schüttelte mit einem müden, einem trostlosen, verzweifelten, schmerzlichen Lächeln den Kopf und stieg dann die Treppe hinab, die kräftig knarrte und den Jungen hoffen ließ, daß die Pensionsinhaberin davon wach wurde. Das war auch der Fall. Madame Bouvier erschien im Morgenrock und händigte André die Rechnung, die er verlangte, aus, wobei sie ihn ständig mit mißtrauischen Blicken bombardierte. Sie hegte nämlich den Verdacht, daß der Junge versucht hätte, sich abzusetzen, ohne zu bezahlen – ein Vorhaben, das an den knarrenden Stufen gescheitert sei. Madame Bouvier wußte, was sie an ihrer Treppe hatte. Im vergangenen Monat war sie sechsmal mit Erfolg in ihren Morgenrock, der immer bereit hing, geschlüpft.
    André fuhr zum Bahnhof, löste eine Karte nach Avignon und wartete, auf seinem Pappkoffer sitzend, bis sein Zug vom Lautsprecher ausgerufen wurde. Dann bestieg er diesen, setzte sich in eine Coupé-Ecke und schloß die Augen. Erst als der Pfiff ertönte und der Zug anfuhr, trat er ans Fenster, riß es auf und beugte sich weit hinaus, blickte auf das faszinierende Paris, auf die lockende, ihn einladende und doch wieder ausspeiende Metropole Frankreichs, blickte auf die betäubende Fülle der Häuser, Menschen, Formen und Werke, auf die Zeugnisse des schaffenden Geistes, auf Triumphe der Technik und Siege der Entwicklung, er sah in die Gesichter, die an seinem Fenster vorbeiglitten, sah helle und dunkle Augen lachen und weinen, glänzen und sich verschleiern, sah das ersehnte Leben, das, was er Weite des Ichs nannte, greifbar vor seinen Händen liegen und sah es entgleiten im eintönigen Rhythmus stampfender Räder, weil dieses lockende Leben ihn ausstieß, da er ein anders gearteter Mensch war, der nicht unter gewöhnlichen Menschen leben konnte.
    Da riß er das Fenster wieder empor, ließ sich auf seinen Sitz fallen und vergrub den Kopf in den zitternden Händen, während draußen das Häusermeer von Paris in der Ferne zurückblieb.
    Eintönig, einschläfernd dröhnten die Räder, unbarmherzig. Lebloses Eisen waren sie, beseelt nur durch den Hebeldruck menschlicher Hände. Und die Weite schrumpfte zusammen, die Welt wurde klein und das Herz müde … ach, so müde …
    Durch die Fluren Frankreichs raste der Zug nach Süden. In einem Abteil lag ein Junge auf der Bank und weinte. Sein Traum vom Leben war gestorben, nun floh er vor der letzten Wahrheit seiner Welt. In seinem Inneren begann eine Frucht zu reifen, die ihm das Schicksal schon als Keim in seine Wiege gelegt hatte. Im Schluchzen fühlte es der Junge, daß kein Zurück, daß keine Flucht ihn retten konnte, sondern daß ihm ein Gott den Weg und die Erfüllung vorgeschrieben hatte.
    Da dämpfte er sein Weinen und ergab sich still und gläubig seinem Schicksal und fühlte plötzlich, daß die Weite eines Lebens Erdulden ist.
    *
    Aus dem Fenster eines Coupés erster Klasse des gleichen Schnellzuges nach Avignon hatte sich im Bahnhof in Paris ein nervöser Herr im hellen Sommeranzug gebeugt und sich mit zwei gutgekleideten Freunden auf dem Bahnsteig unterhalten. Der eine,

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