Gesang der Rosen
seinem Geist am besten dient. Jedenfalls gilt, daß man ein Genie nicht bestraft – man neigt sich vor ihm, auch wenn es nur sechzehn Jahre zählt.«
Julien Bonnet nickte unwillkürlich.
»Sie mögen recht haben, Monsieur Tornerre, doch die Entscheidung können nicht wir beide treffen. Die Entscheidung ist gebunden an staatliche Gesetze, an richterliche Gewalt. Wenn ich André auch schützen wollte – vor dem Gesetz ist er schuldig geworden, sogar, wenn er Racine, Molière, Voltaire oder Hugo selbst wäre. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich – auch Genies. Was wäre diese Welt, wenn die Begnadigung ein Freibrief wäre?«
»Was wäre diese Welt, wenn es das Genie nicht gäbe?« hielt Marcel Tornerre dem entgegen. »Auch das Gesetz wäre nicht entstanden ohne das Genie, denn als der Staat geboren wurde, stand ein Genius Pate. Ich las von Solon, den man den Weisen nannte, von Plato, Sokrates, Perikles, Aristoteles und Archimedes, von Caesar, Augustus und Trajanus – und Frankreich, Monsieur, vergessen Sie französische Geschichte? Von Karl dem Großen bis Napoleon, vom Sonnenkönig bis Clemenceau? Gesetze, ja, jedoch Gesetze von Genies – warum in dieser Fülle nicht auch ein Gesetz für das Genie?«
Julien Bonnet setzte sich wieder hin. Er bat darum, sich eine Zigarre anzünden zu dürfen. Es war nicht übel, was der alte Küster sagte, es steckten Sinn, Methode, Logik und vor allem Vernunft darin. Vernunft wider das Recht – ein immer wieder zu beobachtender Konflikt, seit es Menschen gab, unter denen Recht gesprochen wurde. Wo war die Grenze, wo die Linie, die den Konflikt jeweils noch mit dem Stempel der Erträglichkeit versah? Wo die Richter, die dafür ausschlaggebend waren?
»Ihr Sohn hat sich einer Fälschung schuldig gemacht«, sagte Julien Bonnet. »Er wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Er schuf jedoch auch Werke, die erstaunlich sind. Für sie soll er die Anerkennung finden, die ihm zusteht. Mich dafür einzusetzen, verspreche ich Ihnen. Darauf hat er Anspruch.«
»Ich will nicht, daß er überhaupt in einen Skandal hineingezogen wird.«
»Sie dürfen nicht zuviel verlangen, Monsieur Tornerre. Wo ist er überhaupt?«
»Wer?«
»Ihr Sohn.«
»Warum?«
»Weil es Zeit wird, daß ich mit ihm spreche.«
»Das kann noch warten. Erst müssen wir beide uns noch einigen. Ich kann Ihnen nämlich ein Angebot machen.«
»Ein Angebot?«
»Ja.«
»Welches Angebot?«
»Ein sehr verlockendes.«
Julien Bonnet zog an seiner Zigarre, stieß eine besonders dicke Rauchwolke aus und erwiderte: »Monsieur Tornerre, ich weiß nicht, was Ihnen vorschwebt, aber wenn dieses … sehr verlockende Angebot, wie Sie sagen, zusammenhängen sollte mit dem Bemühen, Ihren Sohn aus jedem Skandal herauszuhalten, dann muß ich Ihnen noch einmal erklären, daß Sie sich nicht dieser Illusion hingeben dürfen. Das geht nicht.«
»Warten Sie!« entgegnete der Küster, erhob sich von seinem Stuhl, schlurfte zu einem Wandschränkchen, sperrte es mit einem Schlüssel, der im alten Schloß des Schränkchens knirschte, auf und holte eine abgegriffene, an den Seiten zugeschnürte Mappe heraus, legte sie auf den Tisch, öffnete sie und schob sie Bonnet zu.
Bonnets Hand, welche gerade wieder die Zigarre zum Mund hatte führen wollen, blieb auf halbem Wege in der Luft stehen. Mit einem Ruck beugte er sich vor. Was da in der alten Mappe lag, vergilbt, kaum noch leserlich und reich mit Initialen verziert, das waren vergessene, Jahrhunderte hindurch verschollene Troubadourlieder. Schon wollte der Professor in Jubelrufe ausbrechen, aber dann durchzuckte es ihn, er war ja ein gebranntes Kind.
»Sind die echt?«
»Hundertprozentig.«
»Sie werden verstehen, daß sich in mir einiges dagegen sträubt, das so ohne weiteres zu glauben.«
»Sehen Sie sie sich doch näher an.«
»Auch dann werde ich mich hüten, noch einmal ein schnelles Urteil zu fällen.«
»Monsieur«, appellierte der Küster an Bonnets Logik, »es wäre doch von mir der helle Wahnsinn, ausgerechnet Ihnen noch einmal mit Fälschungen kommen zu wollen. Mir muß doch klar sein, welche Prüfungen hier ganz rasch einsetzen werden. Deshalb können Sie absolut sicher sein, daß vor Ihnen auf dem Tisch hundertprozentig echte Originale liegen, Troubadourlieder aus der Zeit von 1180-1220 …«
»Woher haben Sie sie?«
»Ererbter Familienbesitz. Wir Tornerres haben eine große Vergangenheit – aber darauf will ich nicht näher eingehen, das wäre von einem
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