Gesang der Rosen
alten Kapelle, mit dem Spruch an der Wand, der ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: Verachte, daß du verachtet wirst!
Und diesem Drang folgend, rannte er den Weg hinab ins Tal, während die Nachtwolken den Himmel überzogen und der Wind, der von der Rhône herüberwehte, ihm die Locken zauste.
In Carpentras aber wunderten sich die Leute, denn seit Menschengedenken war es das erstemal, daß am Abend die Glocke nicht läutete.
*
In der guten Stube des Küsterhauses saß auf dem schmalen Sofa Professor Bonnet dem gebrochenen Marcel Tornerre und der weinenden, einer Ohnmacht nahen Yvonne gegenüber. Sein Glas Landrotwein hatte Bonnet unberührt gelassen, und wenn auch seine Miene und sein Gebaren streng und unerbittlich waren, wenn seine ganze Erscheinung auch eine Verkörperung des Rechts und der Sühne darstellte, so fühlte er doch im Inneren den Schmerz der Küstersleute und neigte dazu, ihnen beizustehen, obwohl die Vernunft dem Gefühl streng widersprach. Die fürchterliche Eröffnung der entdeckten Fälschung hatte die Eltern niedergeschmettert, sie sahen die Schuld und deren Buße ein; doch nun, da sie den ersten Schreck etwas zu verdauen begannen, klammerten sie sich an die große Hoffnung, die noch blieb: Wenn André diese Lieder nicht gefunden hatte, so waren sie sein eigenes Werk, und da man sie für Glanzleistungen Marcabruns gehalten hatte, stand André auf der gleichen Stufe mit dem Troubadour.
Julien Bonnet blickte zu Boden. Es arbeitete in ihm. Seine Gesichtsmuskeln zuckten. Ein Genie in Carpentras! Ein sechzehnjähriges Phänomen! Kann man ein Genie bestrafen, weil es eine Welt zu täuschen trachtet? Hat diese Welt nicht die Verpflichtung, diesen Geist zu pflegen? Genies gibt es in jedem Jahrhundert nur eines; wenn es hochkommt, auch zwei oder drei … mehr aber nicht! Und hier, hier lebte ein Begnadeter, ein Sechzehnjähriger, ein früh Vollendeter, die große Hoffnung des literarischen Frankreichs, ein Junge, der auf Hügeln träumte, ein einfaches Mädchen aus dem Volke liebte und eine Welt beschenkte – und diese Welt gab dem Geschenk verblendet einen anderen Namen! Wer war denn hier der Schuldige? André Tornerre oder Julien Bonnet?
Wie war es doch gewesen, als André ihm die Lieder übergeben hatte? Er hatte von einem Fund in einer alten Krypta gesprochen, und er, Bonnet, er hatte sie die Lieder Marcabruns genannt. Daß André ihm nicht widersprochen hatte, war das in diesem Augenblick nicht verständlich gewesen? Man mußte sich einmal in seine Situation versetzen. Er hatte es für sein Werk getan, um sich selbst, dem Unbekannten, den man verlacht hätte, wenn er mit offenem Visier vor die Welt hingetreten wäre, den man aus den Häusern der Verlage hinausgeworfen hätte, einen Dienst zu erweisen. Und der Welt hatte er doch damit in Wahrheit ein Geschenk gemacht. Wäre nicht ein mißtrauischer Untersuchungsrichter in Paris gewesen, der mit seiner ewigen Herumnörgelei einen Stein ins Rollen gebracht hatte, würde die Welt darüber heute noch jubeln.
Die Welt allein war schuldig mit ihrer Manie, das alte Kunstwerk – ganz egal welcher Art – zu bewundern und das neue erst einmal abzulehnen, es zu verwerfen. Ein großes Werk aber ist eine Mission an die Menschheit, ein Geschenk der Schöpfung, auch wenn es sich als Geburtsstätte den Kopf eines sechzehnjährigen Küsterjungen aussucht. Und dieses Genie wollte man zertreten?
Julien Bonnet fühlte in diesen Minuten, daß er dabei war, sich selbst zu unterminieren. Zwar stand das weltliche, kalte, intellektuelle Recht auf seiner Seite, doch daß er mit diesem Recht die Würde seiner Menschlichkeit verlor und ein Teil der mechanischen Kraft wurde, welche die Kultur durch die Zivilisation ablöste und neue goldene Kälber zur Götzenanbetung der Menschheit aufbaute, war auch klar. Der Widerstreit in seinem Innern war so stark, daß es ihn auf seinem Sofa nicht mehr hielt. Er sprang auf und lief in dem engen Raum hin und her und biß sich auf die Lippen, als der einfache alte Küster Marcel Tornerre in überraschend eindrucksvollen Worten seiner Meinung Ausdruck gab.
»Unser André ist nicht schlecht«, sagte Tornerre und tätschelte der noch immer schluchzenden Yvonne beruhigend den Arm. »Er hat heimgefunden, weil ihn die Heimat bindet. Vielleicht gehört dazu auch das, was er getan hat. Vorhin ist Ihnen ja selbst der Ausdruck ›Genie‹ herausgerutscht. Und ein Genie darf maßvoll oder maßlos leben – er allein kann wissen, wie er
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