Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
meinem Bein. Ich erschrak. Trotzdem machte ich eine klitzekleine Lücke zwischen Zeige- und Mittelfinger und öffnete das Auge dahinter so weit, dass ich ein bisschen was sehen konnte. Ich sah ein bekanntes Gesicht und war überrascht.
»Frau Antunes?«, flüsterte ich. Das war das erste Mal, dass ich mich freute, die Frau vom Jugendamt zu sehen. Normalerweise war es immer ein totaler Stress, wenn sie kam. Wir mussten überall aufräumen und alles perfekt und richtig machen. Mama sagte mir tausend Mal, dass ich ruhig bleiben sollte, egal, was sie mich fragen würde. Obwohl sie eigentlich immer nett war, fand ich es blöd, wenn sie kam. Außer jetzt.
Ich kroch unter der Bank hervor und wir setzten uns alle noch einmal zusammen an den Küchentisch und erzählten Frau Antunes, was passiert war. Als wir alles erzählt hatten, war es schon zehn Uhr abends und Mama schickte Stefan und mich nach oben ins Bett. Morgen war Schule und normalerweise musste ich unter der Woche um halb neun ins Bett. Stefan sogar schon um acht.
Gerade, als ich mir die Zähne geputzt hatte, hörte ich, dass unten das Telefon klingelte. Mama ging ran. Ich schlich mich aus dem Bad und blieb oben am Treppenabsatz stehen.
»Beruhigen Sie sich doch!«, hörte ich Mama sagen. Und nach einer Pause: »Ist schon gut. Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Wieder eine kurze Pause. Dann sagte sie: »Sie ist schon im Bett. – Nein, gerade eben erst. – Aber es wäre gut, wenn es nicht so lange dauert, sie hat sich große Sorgen gemacht und ist sehr erschöpft.« Ich hörte, wie sie den Hörer neben das Telefon legte und zur Treppe ging.
»Janine, stehst du da oben? Kommst du bitte noch mal kurz runter?«, sagte sie.
»Okay«, antwortete ich und kam die Treppe runter.
Sie ging wieder zum Telefon, nahm den Hörer und bedeckte die Seite, in die man reinsprach, mit einer Hand. »Deine Mutter ist dran. Sie möchte sich bei dir entschuldigen, dass sie uns heute so Angst gemacht hat.«
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Auch wenn es schwerfällt, sei nett zu ihr, ja?«
Ich schüttelte wieder den Kopf. Warum sollte ich jetzt nett zu der sein?
»Bitte, Janine«, sagte Mama und sah mir fest in die Augen. »Wir wollen sie nicht verärgern, okay? Das ist jetzt wirklich wichtig.« Sie hielt mir den Hörer hin. »Bitte.« Zwischen ihren Augenbrauen war die Falte und sie sah sehr müde aus. Ihre Augen waren vom Weinen ganz rot.
Ich nahm den Hörer und sagte: »Hallo, hier ist Janine.«
»Janine, mein Schatz, es tut mir so leid!« Meine Mutter schniefte. »Wir wollten dir keine Angst machen. Bitte vergiss nicht, dass ich dich sehr lieb hab.« Sie sprach leise und klang, als würde sie gleich losheulen.
»Okay.«
»Bitte entschuldige. Du musst am Wochenende nicht zu uns kommen. Wir holen dich ein andermal. Ich melde mich wieder, ja?«
»Okay.«
»Gute Nacht. Schlaf schön!«
Ich sagte auch gute Nacht und legte auf.
Danach ging ich ins Bett, aber obwohl ich total müde war, konnte ich nicht einschlafen. Irgendwann hörte ich, wie die Haustür auf- und wieder zugemacht wurde. Wahrscheinlich war Frau Antunes jetzt gegangen.
Kurz danach telefonierte Mama noch einmal. Ich lauschte ein bisschen und verstand, dass sie mit meiner ältesten Schwester Anne sprach und ihr von dem ganzen Terror erzählte. Sie fragte, ob sie am Wochenende kommen könnte. Ich würde Mama morgen fragen, was Anne geantwortet hatte. Ich würde mich so freuen, wenn sie käme! Seit sie zum Studium weggezogen war, kam es mir manchmal so vor, als fehlte jemand.
Kurz nachdem Mama aufgelegt hatte, kamen Mama und Papa die Treppe nach oben. Als alles ruhig war, fiel mir ein, dass wir uns heute gar keinen Gutenachtkuss gegeben hatten. Alles war so durcheinander gewesen. Ich stand auf und ging zum Schlafzimmer hinüber. Die Tür war nur angelehnt, Mama sagte gerade:
»Wie kann der nach all den Jahren hier ankommen und versuchen, unsere Familie kaputtzumachen? Es war alles friedlich, als nur Janines Mutter im Spiel war. Jetzt kommt dieser Mann und bringt hier eine Unruhe rein, wiegelt die Frau gegen uns auf und versucht uns das Kind wegzunehmen. Es hat doch all die Jahre so wunderbar funktioniert!«
»Mach dir keine Sorgen, es wird sich schon alles wieder einrenken. Solange wir kooperativ sind, keine Fehler machen und die Sache nicht eskalieren lassen, haben wir trotz allem gute Chancen, dass alles so bleiben kann. Das hat Frau Antunes ja gerade
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