Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
Ihre Hand zitterte. Plötzlich fing sie an zu weinen und setzte sich auf den Stuhl neben der Telefonkommode. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte ganz laut. Ich stand einfach nur da und wusste nicht, was ich machen sollte.
»Karin, was ist denn los?« Papa kam aus dem Wohnzimmer und ging schnell zu Mama. Er streichelte ihr über den Rücken und das Schluchzen wurde ein bisschen leiser. Dann ließ sie langsam die Hände sinken und schaute Papa an.
»Das ist der Mann, nicht sie«, sagte sie.
»Was meinst du damit? Was ist denn überhaupt passiert?« Papa nahm ihr den Telefonhörer aus der Hand, hielt ihn an sein Ohr und fragte. »Hallo?« Aber es war keiner mehr dran und er legte auf.
»Das war Ninas Vater. Er hat gesagt, sie holen sie hier weg. Sie kommen in zehn Minuten. Was sollen wir bloß tun?«, sagte Mama.
Papa hielt sich die Hand vor den Mund. Er sah sehr erschrocken aus.
Plötzlich begriff ich. Sie wollten mich für immer von hier wegholen. Nur weil ich am Sonntag singen wollte.
»Das dürfen die nicht! Ich bleibe hier!«, schrie ich und rannte in die Küche. Ich setzte mich ganz hinten auf die Eckbank, zog die Füße hoch und machte mich so klein wie möglich. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht, ging es in meinem Kopf immer weiter. Mama und Papa redeten im Flur miteinander. Sie klangen total aufgeregt. Ich hatte Angst.
Als wäre es ganz weit weg, hörte ich die Rollläden runterrasseln. Zuerst im Erdgeschoss. Dann das gleiche Geräusch leiser. Das waren die Rollläden oben. Jemand schloss die Haustür ab. Ich hörte, dass Kerstin und Stefan mit Mama redeten, konnte aber nicht verstehen, was.
Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht.
Papa kam in die Küche und setzte sich neben mich auf die Eckbank an den Küchentisch. Er legte den Arm um mich und sagte leise in mein Ohr: »Hab keine Angst! Ich passe auf dich auf.«
»Ich rufe jetzt das Jugendamt an. Sie müssen die Leute zur Vernunft bringen!«, sagte Mama von der Tür zum Flur. Sie sah ganz verknautscht aus im Gesicht und das Weiße in ihren Augen war rot.
»Gut. Mach das. Ich bleibe bei Janine«, sagte Papa.
Papa und Mama waren sehr ernst und ich merkte, dass beide große Angst hatten, obwohl sie versuchten, es nicht zu zeigen.
Papa sagte noch einmal: »Hab keine Angst, so einfach kommen die hier nicht rein. So einfach können sie dich uns nicht wegnehmen.« Ich konnte gar nichts sagen. Und auch nicht weinen. Ich dachte nur immer: Das dürfen die nicht. Das dürfen die nicht.
Wir hörten Mama telefonieren. Nach einer Weile rief sie nach Stefan und Kerstin und kurz danach kamen alle zu uns in die Küche.
»Die Leute vom Jugendamt versuchen, sie zu erreichen. Wenn sie nicht mit ihnen sprechen können, kommen sie hierher. Sie sagen, die Lage ist ernst, aber so einfach ist es dann doch nicht. Wir können jetzt nur abwarten und versuchen, uns nicht verrückt zu machen.«
Mama setzte sich auf die Bank, Stefan fing an zu heulen und kuschelte sich ganz eng an sie ran. So blieben wir ziemlich lange sitzen. Irgendwann versuchten wir, zu Abend zu essen. Aber richtig viel Hunger hatten wir alle nicht und so räumten wir die Sachen schnell wieder weg. Mama fragte mich noch mal, was meine Mutter ganz genau am Telefon gesagt hatte, und was genau ich gesagt hatte. Ich versuchte, das alles noch mal zu wiederholen. Stefan schluchzte immer noch leise vor sich hin und irgendwann musste Mama auch wieder weinen.
»Es tut mir so leid!«, flüsterte sie.
»Ach Karin, mach dir doch jetzt keine Vorwürfe!«, sagte Papa und nahm ihre Hand.
Kerstin sagte: »So eine blöde Kuh! Kann die uns nicht in Ruhe lassen!«
»Kerstin, lass gut sein!«, murmelte Mama.
Dann sagte keiner mehr etwas. Es war ganz still. Wir hörten ein Auto. Ich hielt den Atem an. Aber es fuhr vorbei. Dann noch eins. Dann war es wieder still. So ging es eine Zeitlang. Ich legte meinen Kopf an Papas Schulter.
Ein ganz lautes Geräusch ließ mich plötzlich zusammenzucken. Es hatte geklingelt! Ich erschrak mich ganz fürchterlich und ließ mich blitzschnell unter die Eckbank gleiten. Ich quetschte mich in die hinterste Ecke und machte mich so klein es ging. So konnte mich keiner sehen. Vielleicht passierte nichts, wenn sie mich einfach nicht fanden! Ich presste meine Hände auf die Ohren und kniff die Augen ganz fest zu.
Eine Zeitlang passierte gar nichts. Ich hörte und sah ja nichts. Dann rüttelte jemand leicht an
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