Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
nicht. Die könnte mich doch jederzeit holen und dir wär das doch sowieso wurscht!«, schrie ich. Die Worte kamen ganz automatisch. Die Tränen auch. Sie liefen mir über das Gesicht, das sich ganz heiß anfühlte.
Papa hörte auf, das Fahrrad zu reparieren, und sah mich an. Aber er sagte nichts. Dann machte er sich wieder an dem Fahrrad zu schaffen. Niemand sagte ein Wort. Mama klammerte sich mit der linken Hand am Lenker fest, die Rechte hielt sie vor den Mund. An ihren Augen sah ich, dass sie weinte. Als die Kette wieder drin war, stellte Papa das Fahrrad wieder auf die Räder.
»Wir fahren zurück. Du nimmst mein Fahrrad«, sagte er. Sein Gesicht war ganz starr und weiß. Dann setzte er sich auf das Kinderfahrrad und fuhr in einem Affenzahn den Berg runter.
»Oh Mann, warum kehren wir denn jetzt um?«, maulte Stefan und kickte einen Stein weg.
Meine Wut war plötzlich verschwunden. Ich war total erschöpft und traurig. Ich ging zu Papas Fahrrad und fuhr hinter Stefan und Mama den Berg hinunter. Der Sattel war viel zu hoch, aber das war mir jetzt alles egal und ich fuhr die meiste Zeit im Stehen.
Wir hatten die Räder für drei Tage gebucht, deshalb fuhr Papa nicht zum Fahrradverleih in Rust zurück, sondern in unsere Pension. Ich hatte einen Kloß im Hals.
Als wir die Fahrräder abgeschlossen hatten, hatte Papa immer noch kein Wort gesagt und mich nicht angesehen. Also hatte ich recht gehabt. Den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich ging ins Haus und hinauf in das Zimmer, in dem ich zusammen mit Stefan schlief, und legte mich auf mein Bett. Jetzt kamen noch mehr Tränen. Aber es waren keine Wuttränen mehr, sondern Traurigkeitstränen. Ich hatte mich noch nie mit Papa gestritten.
Als es Abend wurde, klopfte es. Mama blieb in der offenen Tür stehen.
»Machst du dich fertig? Wir wollen nach Rust fahren und essen gehen«, sagte sie. Ihre Augen waren verheult.
»Ich habe keinen Hunger, ich bleibe hier«, sagte ich.
»Schatz, du musst doch was essen!«
»Ich bleibe hier.«
Sie nickte. Als sie weg waren, ging ich zu Patrizia und ihrer Mutter in die Küche und fragte, ob ich ein Käsebrot bekommen konnte.
Beim Frühstück verkündete Mama, dass wir heute eine Bootsfahrt machen würden. Papa las Zeitung. Das Einzige, was er zu mir sagte, war »Guten Morgen«. Auch auf dem Weg zum Bootsanleger und auf dem Schiff redeten wir nicht miteinander. Stefan und Mama unterhielten sich und auf dem Schiff saß Papa neben Stefan, der sein Fußball-Sammelalbum dabeihatte. Er hatte es seit der Fußball-Weltmeisterschaft, die vor ein paar Monaten in Mexiko gewesen war. Obwohl die Weltmeisterschaft schon seit zwei Monaten vorbei war, schleppte er das Album immer noch mit sich rum und blätterte es dauernd wieder durch. Ich stellte mich an die Reling und schaute auf den See. Warum hatte Papa mir denn nicht widersprochen? Wär es ihm wirklich lieber, ich wäre bei meinen leiblichen Eltern? Hoffentlich fuhren wir bald wieder nach Hause.
Um fünf Uhr nachmittags legten wir wieder in Rust an. Stefan wollte noch schnell auf den Marktplatz, um nach den Störchen zu schauen. Aber sie waren ausgeflogen. Auf dem Weg zur Pension zurück kauften wir noch ein paar Sachen für das Abendessen: Brot, Salami, Käse, Tomaten, die hier Paradeiser hießen, und einen fertigen Kartoffelsalat.
Wir deckten im Garten der Pension unter einem der großen Bäume den Tisch und aßen dort zu Abend. Weit hinten war der See, hinter dem Schilfgürtel, der ihn umgab. Zwei große Vögel, vielleicht Störche, flogen hoch am Himmel herum. Als wir fertig waren, fragte Papa:
»Ich radle schnell zum Gasthaus im Ort und hole Eis zum Nachtisch. Was möchtet ihr?« Er war schon aufgestanden.
Ich antwortete nicht.
»Janine, möchtest du auch ein Eis?«, fragte er mich jetzt direkt.
»Von dir will ich gar nichts mehr! Ich bin dir doch sowieso total egal. Ich bin ja bloß das blöde Pflegekind!« Das war mir nur so rausgerutscht. Eigentlich meinte ich es gar nicht so.
Papa blieb wie erstarrt stehen und sagte gar nichts. Seine Unterlippe zitterte. Dann verzog er das Gesicht, bedeckte mit einer Hand seine Augen und drehte sich von uns weg. Seine Schultern bebten. Ich sprang auf, lief zu ihm hin und nahm seine Hand. Ich schaute zu ihm hoch, Papa war immer noch sehr viel größer als ich. Eine Träne lief auf seinem Gesicht herunter. Ich hatte Papa noch nie weinen sehen. Er blieb einfach so stehen.
»Peter, was …?«, fing Mama an, aber Papa machte eine abwehrende
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