Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
Handbewegung. Ich blieb neben ihm stehen und hielt seine Hand.
Mama und Stefan gingen in Richtung Haus an uns vorbei. Mama trug das Tablett mit den Essenssachen und dem Geschirr, Stefan hatte die restlichen beiden Teller in der Hand. Stefan drehte sich noch einmal um und sagte leise: »Papa?«
»Komm, Stefan, lassen wir die beiden einen Moment alleine. Papa und Janine haben etwas zu besprechen«, Mama schaute Papa an, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann sagte sie doch nichts und ging mit Stefan zum Haus.
Papa wischte sich mit einer Hand über die Augen und setzte sich wieder an den Gartentisch. Ich setzte mich daneben. Sein Gesicht war ganz fleckig, aber er weinte schon nicht mehr. Hatte er überhaupt geweint? Das kam mir ganz unwirklich vor. Zuerst sagte er gar nichts und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Dann fing er an:
»Weißt du, Janine, es ist für mich ganz schrecklich, dass du denkst, du wärst mir nicht wichtig.«
Er machte eine Pause. »Du weißt gar nicht, wie lieb ich dich habe. Und wie schlimm ich den Gedanken finde, dass deine Mutter dich von uns wegholen könnte. Das könnte ich nicht ertragen. Wir würden dich doch alle schrecklich vermissen. Ich würde dich gerne mehr beschützen können. Komm mal her!«
Ich stand auf und setzte mich auf seinen Schoß. Wir umarmten uns und jetzt musste ich auch kurz weinen.
»Es tut mir leid, Papa«, flüsterte ich in sein Ohr.
»Mir auch«, sagte er. »Egal, was passiert, du bist meine Tochter, vergiss das nicht, ja?«
Ich nickte.
»Ich sag das vielleicht nicht so oft wie Mama, weißt du. Aber deshalb hab ich dich bestimmt nicht weniger lieb.«
Ich glaube, es kostete ihn viel Mühe, das zu sagen. Ich nickte. Meine Kehle war immer noch wie zugeschnürt, aber ich war auch sehr froh über das, was er gesagt hatte.
»Kommst du mit, Eis kaufen?«, fragte er und lächelte. Um seine blauen Augen herum hatte er ganz viele kleine Falten in seinem braungebrannten Gesicht. »Am besten nimmst du Mamas Fahrrad.« Er zwinkerte mir zu.
Jetzt war er wieder der Alte. Ich nahm Anlauf und er trug mich huckepack zu den Fahrrädern.
Nach dem Urlaub kam ich in die siebte Klasse. Wir hatten ein paar neue Fächer dazugekriegt, unter anderem Französisch und Chemie. Französisch fand ich super, aber mit Chemie stand ich genauso auf Kriegsfuß wie mit Mathe und Physik. Mathe kapierte ich einfach nicht, es half auch nicht, wenn unser Lehrer es erklärte. Kerstin konnte viel besser erklären und vor der ersten Klassenarbeit übten wir zusammen. An einem Nachmittag im September saßen wir am Küchentisch und ich hatte gerade endlich verstanden, wie man ein Sechstel in Prozent umrechnete. Wieso verstand ich das bei Kerstin immer viel besser als in der Schule?
»Hallo ihr zwei, ich hab gerade die Urlaubsfotos abgeholt. Wollt ihr mal sehen?« Mama war gerade vollbepackt mit Einkaufstüten nach Hause gekommen.
»Au ja, machen wir Pause!« Auch wenn es mit Kerstin mehr Spaß machte als in der Schule, fand ich Urlaubsfotos natürlich spannender als Mathe.
Wir sahen uns die Fotos reihum an. Zuerst Mama, dann ich, dann Kerstin. Es gab viele Fotos von den Störchen: im Nest, als kleine Punkte am Himmel und sogar eins, auf dem ein Storch im Flug drauf war und man etwas erkennen konnte.
»Hier das hab ich gemacht!«, sagte Mama stolz und hielt es hoch.
Außerdem gab es einige Fotos von uns allen, wie wir um Gasthaustische herumsaßen und in die Kamera prosteten und »Cheese« sagten. Von uns allen außer Papa, um genau zu sein, der hatte meistens fotografiert. Von den Wanderungen durch die Weinberge hatten wir auch einige Fotos. Eins zeigte Papa und mich. Wir standen eng zusammen auf einem großen Stein und umarmten uns ganz fest, sonst hätten wir zu zweit gar keinen Platz auf dem Stein gehabt.
»Kann ich das haben?«, fragte ich Mama.
Sie schaute kurz auf, welches Foto ich meinte, und nickte. »Schönes Foto, nicht wahr? Hab auch ich gemacht! Du kannst es haben, ich lasse es nachmachen fürs Album.«
Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Wo kann man Bilderrahmen kaufen?«
»Wieso willst du das denn wissen?«, fragte Mama.
»Das ist geheim«, sagte ich und grinste.
Mama überlegte.
»Unten an der Hauptstraße in dem kleinen Schreibwarenladen gibt es sicher welche«, antwortete sie schließlich.
»Darf ich da kurz hinfahren?«
»Ja, aber fahr vorsichtig und mach keine Umwege!«
Ich nickte, nahm das Foto und ging in mein Zimmer. Dort holte ich das Portemonnaie,
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