Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
in dem ich mein Taschengeld aufbewahrte, und radelte damit zum Schreibwarenladen.
Wenig später war ich wieder zurück. In meinem Zimmer nahm ich den kleinen Bilderrahmen aus der Tüte. Er war weiß und hatte Verzierungen aus kleinen Sternen. Ich löste die beiden Klammern, die den Karton und den Rahmen zusammenhielten, nahm das Bild von Papa und mir auf dem Stein und legte es auf die Glasplatte. Auf die Rückseite des Fotos legte ich das weiße Blatt, das genauso groß war wie die Glasplatte, und den Karton, den ich mit den Klammern wieder am Rahmen befestigte. Ich drehte den Rahmen um. Rund um unser Bild war ein zirka zwei Zentimeter breiter weißer Rand. Mir kam eine Idee. Ich öffnete den Rahmen wieder und nahm das weiße Blatt heraus. Mit einem blauen Glitzerstift aus meinem Federmäppchen schrieb ich ganz unten auf das Blatt:
Wenn alle Väter der Welt freundschaftlich ausgestreckte Hände hätten, so wäre es deine Hand, die ich halten würde! Janine
Papa freute sich total, als ich ihm das Bild nach dem Abendessen schenkte. Er stellte es auf die Anrichte im Esszimmer, wo wir es jeden Tag sehen konnten.
Janine wird mal Ärztin
Denn nur dem, der den Mut hat, den Weg zu gehen,
offenbart sich der Weg.
PAULO COELHO
Die Situation mit meiner Mutter und Helmut wurde auch nach den Sommerferien nicht besser. Mal schrien sie ins Telefon, mal waren sie supernett zu mir. Aber ich wusste nie, wann was passierte und warum. Mama ermahnte mich weiterhin, dass ich mich zusammenreißen und freundlich zu meiner Mutter sein sollte, damit sie nicht verärgert war und ihre Drohung, mich zu sich und Helmut zu holen, wahr machte. Ich verstand überhaupt nicht, wieso sie das überhaupt entscheiden konnte. Auch wenn Mama mir erklärt hatte, dass meine Mutter nach wie vor das Sorgerecht für mich hatte und meine offizielle Erziehungsberechtigte war, fühlte sich das einfach ganz anders an. Und wenn sie sich auf den Kopf stellte, ich würde niemals zu denen gehen! Eher würde ich abhauen. Wieso konnte sie über alles entscheiden und ich über nichts? Ich war doch kein kleines Kind mehr, sondern schon zwölf und in der siebten Klasse auf dem Gymnasium!
Die Schule machte mir nicht besonders viel Spaß. Vor allem Mathe, Physik und Chemie. Im Gegensatz zu Stefan. Der war zwar erst in der Fünf, aber er musste kaum lernen und hatte immer super Noten. Kerstin studierte mittlerweile sogar. Ich ging viel lieber zum Schwimmen, ins Leichtathletik-Training und ins Jazzballett als in die Schule. In der ersten Klassenarbeit in Mathe hatte ich trotzdem eine Drei geschrieben. Wenn Kerstin mir alles erklärte, war es gar nicht so schwierig, und wenn ich mich anstrengte, kam ich auch in Mathe, Physik und Chemie mit.
Was mir aber am meisten Spaß machte, war Jazzballett. Zusammen mit meiner besten Freundin Silvia, mit der ich auch im Schwimmen war, ging ich seit vier Wochen in die Gruppe von Frau Grundel. Frau Grundel war streng, aber sehr gut, wie die Tanzlehrer in den Filmen, die ich mir immer mit Kerstin im Kino ansah, Flashdance, A Chorus Line oder Footloose . Silvia war genauso alt wie ich, zwölf, aber in unserer Gruppe waren auch ein paar ältere Mädchen. Übermorgen, am Donnerstag, den 9.Oktober, hatten wir unsere erste Aufführung in einem Einkaufszentrum. Wir hatten eine Choreografie eingeübt zu einem total coolen Lied, das zuerst ganz langsam anfing mit einem Klavierteil und Gesang. Nach einer Strophe kam eine E -Gitarre dazu und es wurde plötzlich richtig rockig und schnell. Es hieß Music Was My First Love und wenn wir dazu tanzten, fühlte ich mich wie in A Chorus Line .
Mama schlug vor, dass ich meine Mutter einladen sollte zum Zugucken. Als wenn sie schon jemals zu irgendeiner Aufführung von mir gekommen wäre! Um Mama einen Gefallen zu tun, rief ich sie an und lud sie ein. Natürlich sagte sie, dass sie keine Zeit hätte. Stattdessen wollte sie mich am Freitag fürs Wochenende abholen. Am Samstag kamen irgendwelche Verwandten, da zeigte sie mich immer gerne vor. Das sagte sie natürlich nicht, aber das dachte ich mir. Ich hatte keine Lust, das Wochenende bei ihnen zu verbringen, aber ich hatte keine Wahl.
Immerhin kam Oma zu meiner Aufführung. Als wir auf die kleine Bühne traten, die neben den Rolltreppen für uns aufgebaut worden war, sah ich sie bei Mama, Papa und Stefan stehen. Stefan blätterte in einem Comic. Wahrscheinlich hatte Mama ihn dazu verdonnert, mitzukommen. Papa lächelte ganz stolz. Oma hatte sich bei Mama
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