Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
hätten die Wohnung über ihre guten Beziehungen bekommen. Ich nahm mir ein Stück Kuchen und beobachtete die Erwachsenen. Onkel Hans war wohl älter als Helmut, auch wenn man ihm das nicht ansah. Aber Helmut sprach ihn immer mit »großer Bruder« an und grinste dabei. Ich verstand nicht, was daran witzig war. Im Vergleich zu Elke war meine Mutter mal wieder auffällig schön, obwohl sie heute etwas weniger sexy angezogen war als sonst: Sie trug keinen Minirock, sondern eine Karottenjeans und darüber einen weiten beigen Blazer mit Schulterpolstern. Die Pumps, die heute auch etwas niedriger waren als sonst, hatten die gleiche Farbe wie der Blazer. Die Haare trug sie wie meistens offen und musste sie sich deshalb ständig aus dem Gesicht streichen oder neu ordnen. Elke hatte eine Dauerwelle, kurze braune Haare und war ein bisschen dick.
»Wie geht’s denn meinem Neffen, dem kleinen Michael? Den hab ich ja schon ewig nicht mehr zu Gesicht bekommen«, fragte Helmut, streckte sich und nahm seine Hände hinter den Kopf, als würde er in einem Liegestuhl liegen.
Onkel Hans verzog keine Miene und Tante Elke rutschte nervös auf dem Sofa nach vorne. Nach einer Pause sagte sie: »Na so klein ist der Michi gar nicht mehr, er ist ja gerade sechzehn geworden.«
»Ach, so alt ist er schon? Jaja, aus Kindern werden Leute. Und, wie stellt er sich in der Schule an? Wird was aus ihm?«, fragte Helmut grinsend.
»Der ist jetzt im letzten Jahr auf der Hauptschule, dann wird er eine Lehre machen. Eher was Handwerkliches, für den Schreibtisch ist der nicht gemacht. Der Michi braucht den weiten Himmel über sich!«, sagte nun Onkel Hans und lächelte. Aber es sah krampfig aus.
»Und Janine, was hast du für Pläne? Was willst du denn mal werden?«, wandte sich Tante Elke nun schnell an mich.
»Ich …«, begann ich.
»Janine wird mal Ärztin!«, sagte meine Mutter und strahlte über das ganze Gesicht. Sie tätschelte meine Hand, die auf der Sessellehne lag. »Das wusste sie schon ganz früh! Schon als kleines Mädchen hat sie immer gesagt: ›Mutti, wenn ich groß bin, werde ich mal Ärztin!‹ Sie wird mal Medizin studieren und wird was ganz Großes. Sie ist ja jetzt schon in der siebten Klasse auf dem Gymnasium. Und so gut in der Schule!«
Tante Elkes Lächeln sah jetzt aus wie festgefroren. Onkel Hans nahm seinen Kuchenteller und schaute konzentriert darauf.
»Eine ganz Schlaue, unsere Janine!«, setzte nun Helmut noch dazu und grinste mich an.
Ich biss ganz fest die Zähne zusammen. Jetzt nichts sagen! Einfach nur lächeln! Aber dann sagte ich doch etwas:
»Ich mache kein Abi und werde nicht studieren. Nach diesem Jahr gehe ich auf die Realschule.«
Meine Mutter und Helmut hörten auf zu lächeln und sahen mich völlig entgeistert an. Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte. Ich wollte wirklich immer Medizin studieren und Ärztin werden. Weil es mich interessierte. Aber das war ganz allein meine Entscheidung.
»Ach, das wusste ich ja noch gar nicht!«, sagte meine Mutter nun, ordnete ihre Haare und tat besorgt. »Da müssen wir aber noch mal drüber reden, Janine-Schätzchen! Noch ein Stück Kuchen, Elke?« Sie lächelte und machte einen auf perfekte Mutter. Als wenn sie sich jemals wirklich für mich interessiert hätte! Am liebsten wäre ich sofort aus der Wohnung gerannt.
Am Montag war ich wie immer nach einem Wochenende bei meiner Mutter krank. Mama kochte mir Tee und ich durfte mir etwas zu essen wünschen. Ich wünschte mir Nudelauflauf. Danach schlief ich noch mal zwei, drei Stunden. Als ich aufwachte, brachte Mama mir frischen Tee ans Bett.
»Darf ich später Ein Colt für alle Fälle schauen?«
Wenn ich krank war, durfte ich manchmal etwas mehr fernsehen als sonst, also versuchte ich mein Glück.
»Ach Schatz, das ist so eine dämliche amerikanische Serie, sie ist wirklich ganz schlimm. Wir haben doch schon öfter darüber gesprochen. Wenn es unbedingt sein muss, darfst du diesen Mist gucken, wenn du ein Teenager bist. Aber mit zwölf, das finde ich zu jung. Warte noch ein halbes Jahr, okay?«
»Aber bei denen durfte ich es auch schauen! Warum kann ich es denn dann hier nicht schauen? Das ist doch lächerlich! Wenn du es mir verbietest, guck ich mir das nächste Mal bei denen zehn Folgen hintereinander an!«, quengelte ich.
Mama seufzte. Sie seufzte oft, bevor sie streng wurde.
»Dann tu das meinetwegen. Aber in diesem Haus gelten meine Regeln. Und das weißt du auch. Du kannst dir diese
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