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Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Titel: Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Kunze
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Abschieds gewann bei mir in den nächsten Wochen das Gefühl Oberhand, endlich wieder atmen zu können. Ich konnte mich wieder frei bewegen. Keiner sagte mir den ganzen Tag: Tu dies nicht, mach das nicht. Ein ganz neues Freiheitsgefühl. Auch wenn es in meinem Leben plötzlich ganz andere Zwänge gab: Dienstpläne, Arbeitskleidung, Krankenpflegeschule. Aber die Arbeit machte mir Spaß und die Freizeit gehörte mir allein. Die wenigen Telefongespräche mit Mama dauerten nicht sehr lang. Die Stimmung zwischen uns blieb kühl. Sie erinnerte mich jedes Mal daran, dass ich noch keine achtzehn war. Sie vertraute mir immer noch nicht und rechnete immer noch jeden Tag mit einer wie auch immer gearteten Katastrophe. Das nervte natürlich und gab Anlass zu Streit. Knapp sieben Monate würde es noch dauern, dann war ich endlich achtzehn, damit offiziell erwachsen und es war auch diese Hürde genommen. Ich konnte es kaum erwarten.
    An den Wochenenden fuhr ich wie verabredet nach Hause, wenn ich keinen Dienst hatte. Trotz meines Schichtdienstes kannte Mama kein Pardon, wenn es um das Thema Sonntagsmesse ging. Nach wie vor gingen wir alle zusammen früh am Sonntagmorgen in die Kirche.
    Eines Sonntagsmorgens in der Adventszeit war es noch stockdunkel, als Mama mich weckte. Ich war so kaputt und hätte alles dafür gegeben, diesen einen Sonntagmorgen endlich mal wieder auszuschlafen. Die Ausbildung war anstrengend. Und manchmal auch die neu gewonnene Freiheit. Schlaftrunken sagte ich zu ihr:
    »Mama, jeden zweiten Sonntag habe ich Dienst, da muss ich um halb sechs aufstehen. Musst du mich wirklich aus dem Bett schmeißen, wenn ich mal einen Sonntag frei habe? So kann ich ja nie wieder ausschlafen!«
    Da meinte sie bloß: »Weißt du, für mich wäre es auch einfacher, dich schlafen zu lassen. Oder gleich selbst liegen zu bleiben. Aber oft ist der bequeme Weg nicht der, der uns weiterbringt im Leben, und nicht der, der uns glücklich macht. Nur, wenn man bereit ist, auf etwas zu verzichten, und etwas gibt, kann man auch Glück empfangen. Na los, jetzt steh auf! Das wird dich nicht umbringen. Es wird noch genug Sonntage in deinem Leben geben, an denen du ausschlafen kannst.«
    Als ich später müde in der Kirchenbank saß und mit den anderen sang, musste ich an Mamas Worte zurückdenken. Ich wusste, dass sie recht hatte. Durchhalten, als Familie zusammenstehen, vor Problemen nicht wegrennen – darauf war es ihr und Papa schon immer angekommen. In diesem Geist hatten sie mich erzogen. Sie hatten selbst immer so gelebt und es sich nie leicht gemacht, sie hatten oft den unbequemen Weg genommen und viel gekämpft. Auch für mich. Und selbst in den Monaten vor meinem Auszug, im ganzen vergangenen Jahr, das für uns alle ein absolutes Horrorjahr gewesen war, hatten sie nie gesagt, ich wäre nicht ihre Tochter. Auch meine Geschwister nicht, mit denen ich zeitweise kaum mehr ein normales Wort gewechselt hatte und mich nach wie vor nicht gut verstand. Ich schluckte. Gut, dass ich aufgestanden war und mitgekommen war in die Kirche. Es hatte mir klargemacht, dass es doch noch etwas gab, das uns verband. Auch wenn es im Augenblick nur ein sehr dünner Faden war.
    Zu Weihnachten schenkten mir meine Eltern den Zuschuss zu einem Appartement und ich konnte innerhalb des Wohnheims umziehen. Es war wie eine eigene kleine Wohnung und ich freute mich riesig darüber! Jetzt hatte ich ein eigenes Bad und endlich ein bisschen mehr Platz und Möglichkeiten, mich einzurichten. Ich war ihnen dankbar und wertete den Zuschuss auch als Geste meiner Eltern, als einen Schritt auf mich zu. Seltsamerweise rückte es uns aber trotzdem nicht wieder näher zusammen. Vielleicht hatten wir einfach zu viel gestritten in den letzten Jahren.
    Der erste Arbeitstag nach den Weihnachtsferien war kalt und grau. Als ich auf die Station kam, war die Stimmung passend zum Wetter gedrückt. Eine alte Frau, die schon lange bei uns gelegen hatte, war in der Nacht gestorben. Sie hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium gehabt; mehrere innere Organe waren befallen gewesen. Sie hatte schon lange gelitten. Der Tod war eine Erlösung für sie und absehbar gewesen, das wusste ich. In den Tagen vor Weihnachten hatte ich ihren langsamen Verfall mitangesehen.
    Obwohl der Tod zu meinem Alltag gehörte, seit ich im Krankenhaus arbeitete, schockierte er mich immer wieder, riss mich aus meiner Routine und ging mir nah. Wenn ein Patient starb, erinnerte es mich daran, wie vergänglich und begrenzt

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