Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
gehen. Reden brachte uns nicht mehr weiter, wir blieben immer in den gleichen Streits stecken, die dann nur immer verbissener und verletzender wurden. Ich merkte, dass ich von Mal zu Mal aggressiver wurde. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden, aber alle anderen auch nicht. Ich fühlte mich wie das schwarze Schaf der Familie, niemand verstand mich und das Gefühl, mit mir selbst allein zu sein, wurde immer stärker. Die Regeln, die Mama und Papa mir auferlegten, schnürten mich immer mehr ein und von Monat zu Monat wurde mein Wunsch, aus diesem engen Korsett auszubrechen, stärker. Ich wollte weg! Ich wollte ausziehen und endlich mein Leben leben.
Im Februar gab es einen Tag der offenen Tür in dem Krankenhaus, in dem ich ab dem Sommer meine Krankenschwesternausbildung machen würde. Eingeladen waren alle Krankenpflege-Schülerinnen, die in diesem Jahr dort beginnen würden. Mama begleitete mich. Ich war erstaunt, wie groß das Krankenhaus war. Eine kleine dicke Nonne führte uns zusammen mit einer Schwesternschülerin aus dem letzten Ausbildungsjahr über das Gelände. Irgendwann blieben wir vor einem mehrstöckigen Gebäude, das etwas abseits stand, stehen.
»Das hier ist das Schwesternwohnheim. Die meisten der Nonnen aus der Krankenpflege wohnen hier und eine ganze Reihe der Schwesternschülerinnen«, sagte die junge Krankenschwester.
»Es sind noch Zimmer frei. Also, wer noch eine günstige Bleibe in direkter Nähe zu seinem Arbeitsplatz sucht, sollte sich bald bei uns melden«, warb die kleine dicke Nonne und fügte grinsend hinzu: »Ein Party-Hotel ist das allerdings nicht, meine Damen. Nicht, dass Sie sich da falsche Hoffnungen machen. Fünfzehn Nonnen mit guten Ohren passen auf Sie auf!«
Einige der Mädchen lachten.
Ich war wie elektrisiert. War das vielleicht die Lösung? Egal, wie streng die Nonnen waren, so würde ich der ständigen Kontrolle meiner Eltern entgehen und konnte endlich selbst über mein Leben entscheiden. Ich brauchte einfach Freiheit! Lieber ein Nonnenschwesternheim als diese völlig erstarrte Atmosphäre, der ständige Ärger und all die Verbote zu Hause.
Nach der Führung über das Gelände wurden wir noch zu Tee und Gebäck in einen Aufenthaltsraum geladen und ich hatte Gelegenheit, mit zwei Schwesternschülerinnen zu sprechen, die im Wohnheim wohnten.
»Ist das wirklich so streng bei euch, wie die Nonne gesagt hat?«, fragte ich.
»Ach, das ist lange nicht so schlimm! Offiziell heißt es zwar, dass nach Dienstschluss um 22.00Uhr die Haustür abgeschlossen wird und keiner mehr raus darf. Aber es gibt noch ein paar andere Möglichkeiten, raus und rein zu kommen.« Sie zwinkerte mir zu. »Solange wir es nicht übertreiben, keine Partys feiern, immer alles aufgeräumt ist und wir pünktlich zum Dienst erscheinen, ist das alles kein Ding. Die Nonnen sind da schon in Ordnung.«
Mein Herz hüpfte. Jetzt musste ich nur noch Mama überzeugen.
Das war schwieriger, als ich gedacht hatte. Doch nach langen Diskussionen willigten Mama und Papa schließlich ein. Das letzte Jahr, nachdem ich sechzehn geworden war, war an uns allen nicht spurlos vorbeigegangen. Ein normales Gespräch ohne Vorwürfe, Stress und Schreierei war bei einem ernsten Thema kaum noch möglich zwischen uns. Natürlich machte Mama mir sofort klar, dass ich nicht zu glauben brauchte, dass mich im Wohnheim die große Freiheit erwartete. Solange ich noch nicht achtzehn war, blieben die Regeln die gleichen, egal, wo ich wohnte. Sie hatte mir immer noch nicht verziehen, dass ich sie angelogen hatte, als ich bei Christian übernachtet hatte. Dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte, änderte daran auch nichts. Auch die Geschichte mit dem Schwarzfahren nagte noch an ihr und wurde mir in regelmäßigen Abständen immer wieder aufs Brot geschmiert.
Sie ließ mich schließlich nur unter der Bedingung ins Wohnheim ziehen, dass ich die Wochenenden, an denen ich nicht arbeiten musste, zu Hause verbringen und weiterhin mit in den Sonntags-Gottesdienst gehen würde.
Zwischen Mamas Augenbrauen hatte sich in den letzten Monaten eine steile Falte eingegraben. Wo war die Mama meiner Kindheit geblieben, an die ich mich jederzeit kuscheln konnte, wenn es mir schlecht ging? Warum war sie so hart geworden und warum war alles so verfahren zu Hause?
Ich wusste es nicht, aber am Schluss zählte für mich nur die Entscheidung, dass ich ausziehen durfte und damit bald mehr ich selbst sein konnte.
Die große Freiheit
Es gibt keine Freiheit
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