Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
ging es darum, was er über das Leben dachte oder was ihn wirklich beschäftigte. Bei Frauen, egal ob Filmschauspielerinnen oder die neuen Freundinnen seiner Freunde, kommentierte er immer zuerst das Aussehen.
Er war total perplex, als ich ihm sagte, dass ich ihn nicht mehr treffen wollte. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Aber ich merkte, dass er nicht wirklich traurig war, sondern nur gekränkt, weil ich ihn verließ. Ich war erleichtert, dass ich ihm nicht wirklich wehtat und dass es vorbei war. Trotzdem hatte ich mich noch nie so alleine gefühlt.
Ich setzte mich in meinem Zimmer vor den großen Spiegel, den ich seit meinem sechzehnten Geburtstag hatte. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Letzte Woche hatte ich ein neues Poster aufgehängt: Es war ein Schwarz-Weiß-Foto von Marilyn Monroe, die sich in New York auf eine Balkonbrüstung stützte und von hoch oben hinunter auf die Straße blickte. In einer Hand hielt sie eine Zigarette. Sie sah nachdenklich aus. Es war traurig, wenn man wusste, dass sie so unglücklich gewesen war. Vor ein paar Wochen hatte ich bei Kerstin einen Bildband über Marilyn Monroe entdeckt und mir ausgeliehen. Seitdem kannte ich ihre Lebensgeschichte und wusste, dass sie wie ich als Pflegekind aufgewachsen war. Deshalb hatte ich mir das Poster von ihr gekauft und aufgehängt.
Ich sah in den Spiegel. Mit einem Finger drückte ich meine Nase platt. Dieser bescheuerte Richter und sein Nasenspruch! Obwohl es jetzt schon über zwei Jahre her war, musste ich immer noch oft daran denken. Seit er als Begründung für die Ablehnung unseres Antrags gesagt hatte, ich würde mal wissen wollen, wo die herkam, hasste ich meine Nase. Ich wusste, wo meine Nase herkam, aber wo gehörte sie hin?
Mit vierzehn war ich mir einmal ganz sicher gewesen, dass ich hundertprozentig hierhin gehören wollte. Aber diese Entscheidung war abgelehnt worden. Seitdem hatte sich viel verändert und ich wurde das Gefühl nicht los, dass alles anders verlaufen wäre, wenn der Richter mir damals recht gegeben hätte. Wir hatten so viel gestritten seitdem und es wurde immer noch schlimmer und schlimmer. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass das noch einmal anders werden könnte.
Ich stand auf und stellte mich vor meinen geöffneten Kleiderschrank. Natürlich hatte ich die ganzen Sachen noch, die anzuziehen mir Mama verboten hatte. Ich zog eine ausgewaschene enge Jeans mit ein paar fransigen Löchern heraus und zog sie an. Ich sah in den Spiegel. Das war ich, das fühlte sich cool und richtig an. Das war Janine, die gerne ausging, gerne Spaß hatte. Aber diese Janine war hier nicht gefragt. So gehörte ich hier nicht hin.
Ich musste an meine Mutter denken. Wie sie bei Christian auf der Couch gesessen und mit ihm über Michael Jackson geredet hatte. Zu ihr würden diese Klamotten passen. Aber der ganze Rest von mir passte nicht zu ihr. Nein, das passte überhaupt nicht. Auch wenn ich ihr total ähnlich sah, war sie mir fremd. Wo gehörte ich hin? Ich fühlte mich zerrissen.
Ich war nicht so wie Christian und meine Mutter. Ich liebte zwar modische Klamotten, aber es gab noch so viel mehr in meinem Leben, das mir viel wichtiger war! Wenn ich mit Silvia auf meinem Bett saß und wir zusammen die Texte unserer Lieblingslieder heraushörten und uns darüber unterhielten, was sie bedeuteten. Ich liebte das Album von Sinéad O’Connor, das mir meine Freundinnen zum Geburtstag geschenkt hatten, und hörte es immer wieder. Man konnte zwar nicht dazu tanzen, aber bei Liedern wie Feel So Different hatte ich das Gefühl, genau zu verstehen, was sie sagen wollte. Es war komisch – obwohl ich nicht jedes Wort übersetzen konnte, verstand ich genau, worum es ging.
Ich fühlte mich anders als Mama und Papa. Aber auch anders als meine Mutter.
In den nächsten Monaten dachte ich viel nach. Mit meiner Mutter wollte ich mich nicht mehr treffen. Sie rief ein paarmal an, aber ich sagte, ich hätte keine Zeit. Mit Mama stritt ich weiterhin über »meinen Lebensstil«, wie sie es nannte. Dass sie sich in Sachen Alkohol bei mir keine Sorgen zu machen brauchte, glaubte sie mir mittlerweile zum Glück. Die Themen, über die wir uns immer wieder stritten, waren Klamotten und Ausgehen. Ich wusste, dass sie das nicht machte, um mich zu schikanieren, sondern, weil sie Angst um mich hatte. Trotzdem vereinfachte das die Sache nicht.
Mamas Nervenkostüm wurde immer dünner. Damit wir nicht dauernd stritten, versuchte ich, allen aus dem Weg zu
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