Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
schroffen Ablehnung durch die Staatsmacht, das Neue Forum zugelassen. Drei Wochen nach dem Sturz Erich Honeckers und der Machtübernahme durch Egon Krenz lag die SED-Herrschaft in der DDR am Boden. In den Tagen nach dem 4. November sah die Bürgerbewegung wie die Siegerin des Umbruchs in der DDR aus.
Ungeahnter Erfolg und unerwarteter Niedergang aber lagen auch hier nahe beieinander. In diesem Moment nämlich bahnte sich bereits eine neuerliche und nicht weniger dramatische Wendung an. Ausgangspunkt war ein ungeplantes Ereignis, dasschließlich zur eigentlichen Ikone des deutschen Herbstes 1989 wurde: der Fall der Berliner Mauer.
3. Staatskrise
Am 1. November 1989 öffnete die DDR ihre Grenze zur Tschechoslowakei wieder, die sie vier Wochen zuvor geschlossen hatte. Binnen zweier Tage füllte sich die bundesdeutsche Botschaft in Prag erneut mit 6000 Flüchtlingen. Die Grenz- und Reisefrage drängte mit Macht auf die Tagesordnung der DDR-Führung. Bereits am Tag seiner Wahl zum Generalsekretär hatte Krenz einen Gesetzentwurf für Auslandsreisen angekündigt. Dabei standen ihm die Dimension des Problems für die DDR und die geradezu existenzgefährdende Bedeutung der Perestroika klar vor Augen, wie er Gorbatschow bei seinem Antrittsbesuch in Moskau am 1. November wissen ließ. Im Protokoll der Unterredung heißt es: «Entideologisierung würde hier den Verzicht auf die Verteidigung des Sozialismus bedeuten. Fragen wie die Mauer und das Grenzregime zur BRD würden neu aufgeworfen. Die DDR befinde sich in der komplizierten Situation, diese nicht mehr recht in die heutige Zeit passenden, aber weiterhin notwendigen Dinge zu verteidigen.»
Gorbatschow reagierte einmal mehr eher idealistisch denn realistisch: Er «äußerte die Meinung, daß dies alles neu durchdacht werden müsse. Die Zeit sei dafür reif. Wenn die DDR nicht die Formel dafür finde, die es ermögliche, dass die Menschen ihre Verwandten besuchen könnten, dann wäre das für die Gesellschaft der DDR ein sehr unbefriedigender Zustand.» Was dies für die DDR bedeutete, die sich 1961 nur durch Abriegelung hatte stabilisieren können, war dem ersten Mann im Kreml offenkundig noch immer nicht klar.
Krenz stellte ein zeitnahes Reisegesetz in Aussicht, wobei ihm durchaus bewusst war: «Wie wir's auch machen, machen wir's verkehrt.» Ein Gesetzentwurf wurde am 6. November im
Neuen Deutschland
veröffentlicht; er sah Bearbeitungszeiten, eine Beschränkung der jährlichen Gesamtreisezeit und die Möglichkeit von «Versagungsgründen» vor und stieß allenthalben, etwaauf der Leipziger Montagsdemonstration am selben Abend, auf breite Ablehnung, ja heizte die Atmosphäre nur noch weiter an.
Zugleich geriet die DDR-Führung auch von Seiten der tschechoslowakischen Regierung unter Druck. Die Flüchtlinge in der Prager Botschaft durften in diesem Falle auf direktem Wege, ohne Transit über das Territorium der DDR, in die Bundesrepublik ausreisen. In der Folge verließen am Wochenende des 4. und 5. November, als die Bürgerbewegung in Ost-Berlin ihren Triumph feierte, über 23.000 Bewohner die DDR auf dem Weg über die Tschechoslowakei; bis zum Abend des 8. November waren es insgesamt 45.000. Die DDR-Grenze war unkontrollierbar porös geworden, und zudem forderte die Prager Regierung Ost-Berlin auf, die Fluchtwelle durch ihr Land unverzüglich zu beenden.
Von allen Seiten standen die 215 Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees der SED unter Druck, als sie vom 8. bis zum 10. November am Werderschen Markt in Berlin zusammenkamen, kaum 500 Meter von der Mauer entfernt. Schon der Verlauf der ersten Sitzung dokumentierte den fortschreitenden Zerfall der Partei. Zu Beginn wurde der Rücktritt des gesamten Politbüros bekanntgegeben; drei der von Krenz vorgeschlagenen neuen Kandidaten wurden aber nicht gewählt, und der Dank an die Ausgeschiedenen wurde heftig kritisiert. Obendrein demonstrierten in Ost-Berlin Mitglieder der SED gegen die eigene Parteiführung.
Am zweiten Sitzungstag wich Egon Krenz gegen 16 Uhr kurz von der Tagesordnung ab, um den Vorschlag einer Verordnung zur «Frage der Ausreisen» zu verlesen, der tagsüber im Ministerrat erarbeitet worden war. Eine kurze Diskussion über technische Einzelheiten beendete Krenz mit der Frage: «Einverstanden, Genossen? –
Zurufe: Ja! –
Gut. Danke schön.»
Gleichsam im Handstreich hatte das ZK der SED einen «Beschluss zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern über die
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