Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
CSSR» herbeigeführt. Die Verordnung war nicht sehr klar formuliert, vielmehr ein Produkt von Handlungsdruck und mangelndem Überblick. Eine Diskrepanzbestand allein schon zwischen der Überschrift, die von der «ständigen Ausreise von DDR-Bürgern über die CSSR» sprach, und dem Inhalt, der sich auch auf «Privatreisen nach dem Ausland», also Reisen allgemeiner Art bezog. Diese, so der Verordnungstext, sollten «ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden [können]. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.» Auch für die ständigen Ausreisen seien die Visa «unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen». In beiden Fällen waren freilich nach wie vor ein (schriftlicher) Antrag sowie seine Genehmigung vorgesehen – auch wenn diese «kurzfristig» bzw. «unverzüglich» erteilt werden sollte, hieß dies keineswegs, dass die Bewohner der DDR die Grenze ihres Landes einfach überschreiten durften. Gleichwohl war die Reiseverordnung geradezu revolutionär: Die DDR gab ihr Grenzregime auf.
Welche Lawine durch den Beschluss losgetreten worden war, ahnte indessen wohl keines der ZK-Mitglieder. Günter Schabowski, seit dem Vortag für Medien zuständiger ZK-Sekretär, war in den Minuten zuvor nicht im Saal gewesen. Als er zur Pressekonferenz aufbrach, die um 18 Uhr im nur wenige hundert Meter entfernten Internationalen Pressezentrum angesetzt war und live im DDR-Fernsehen übertragen wurde, gab ihm Egon Krenz den Text der Verordnung in die Hand. Des Papiers offenbar unkundig, las er gegen 19 Uhr, kurz vor Ende der Pressekonferenz, inmitten eher unkoordinierter Äußerungen über die Reisefrage, die Pressemitteilung hastig vor. Zugespitzt wirkte sie dadurch, dass er die beiden Sätze über «Versagungsgründe» für Privatreisen und die «Antragstellung auf ständige Ausreisen» ausließ.
Im Saal kam Unruhe auf. In seinen Papieren blätternd, antwortete Schabowski auf die Nachfrage, wann diese Regelung in Kraft trete, «sofort, unverzüglich», und bestätigte, wie es im Verordnungstext stand, dass die «ständige Ausreise» auch über die «Grenzübergangsstellen der DDR […] zu Berlin-West erfolgen» könne. Vor laufenden Kameras und live auf den Bildschirmen des Staatsfernsehens der DDR zu sehen, brach Konfusionaus: bei Schabowski, der nicht recht wusste, ob er über ständige Ausreisen oder über allgemeine Reisefreiheit sprach, ebenso wie bei den Journalisten im Saal, die, zumal es noch keine schriftliche Pressemitteilung gab, genau so wie die Zuschauer am Fernseher auf Schabowskis mündliche Äußerungen angewiesen waren.
Nun aber verselbständigten und überschlugen sich die Ereignisse. Um 19.05 Uhr meldete Associated Press, die «DDR öffnet […] ihre Grenzen», und mit derselben Topmeldung machte die ARD-Tagesschau um 20 Uhr auf – in der Sache grundsätzlich richtig und zugleich einen entscheidenden Schritt über den Inhalt der Reiseregelung hinaus. Zu Fuß und mit dem Auto strömten die Ost-Berliner daraufhin zu den Grenzübergangsstellen. Am Übergang «Bornholmer Straße» entstand bald eine bedrohliche Situation, und der diensthabende Offizier wusste sich um 22.30 Uhr nur noch dadurch zu helfen, dass er den Übergang öffnete. Weitere folgten, beschleunigt durch die Berichterstattung des West-Fernsehens, die den Ereignissen vorausging. Um Mitternacht waren, nach über 28 Jahren der hermetischen Abriegelung, alle Übergangsstellen geöffnet und im Laufe dieser Nacht auch die Grenzkontrollpunkte von der DDR zur Bundesrepublik. Am Brandenburger Tor befand sich zwar kein Grenzübergang, dort aber strömten Menschen aus West und Ost zusammen und bestiegen die Mauer. Das Symbol der Teilung wurde zum Symbol ihrer Überwindung und die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ein rauschendes Fest. Nirgends konnte das Ende des Ost-West-Konflikts sinnfälliger werden.
Die Moskauer Führung, die einst ihre herrschende Hand über den Bau der Mauer und über den gesamten SED-Staat gehalten hatte, wurde von den Ereignissen dieser Nacht völlig überrascht. Zwar äußerte Botschafter Kotschemassow am nächsten Morgen gegenüber Egon Krenz Befremden über das eigenmächtige Vorgehen Ost-Berlins, das die Zuständigkeit der Vier Mächte berührte. Auch schien es in Moskau durchaus Ambitionen zu geben, die
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