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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Rödder
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ein intellektuell wendiger und rhetorisch begabter 41-jähriger Rechtsanwalt mit guten Kontakten zu den oppositionellen Gruppen. Gysi und Modrow versuchten, die Entwicklung noch einmal in die Hand der ehemaligen SED zu bekommen, und setzten sich von Krenz ab. Worauf sie hofften, musste in historischer Perspektive nicht aussichtslos sein: Auch 1848 war zunächst die Herrschaft der Fürsten binnen kürzester Zeit kollabiert, dann aber hatten sie die Macht zurückgewonnen. 1989/90 aber gab es kein Zurück mehr. Die Entwicklung war unumkehrbar vorangeschritten.
    Denn mit dem Fall der Mauer war die SED-Herrschaft auch deshalb faktisch am Ende, weil mit der Berliner Mauer das Symbol der Teilung Deutschlands gefallen war und damit zwangsläufig ein neues Thema aktuell wurde. Nun ging es um die Existenz des gesamten Staates. Und diese Entwicklung bestimmte weder das kollabierende Regime noch die Oppositionsbewegung, die den Anstoß zu seinem Zusammenbruch gegeben hatte.

III. Nationale Wende
1. Die Spaltung der Bürgerbewegung
    Der «Aktionsverbund einer Minderheit von DDR-Erneuerern und einer Mehrheit von DDR-Überwindern war historisch von kurzer Dauer», so pointierte der ostdeutsche Historiker Hartmut Zwahr. Die Aktionen gegen das Regime, in erster Linie die Massendemonstrationen, hatten zunächst vor allem zu einer Solidarisierung breiter Schichten der Bevölkerung geführt, vor der die hilflose Staats- und Parteiführung kapituliert hatte. Dass die konkreten inhaltlichen Vorstellungen der Bürgerbewegung darüber noch sehr allgemein geblieben waren, hatte überhaupt erst ihre Zustimmungs- und Handlungsfähigkeit ermöglicht. Als sich dann aber die Frage eigener politischer Positionen und Perspektiven samt ihrer Umsetzung stellte, zerbrach die Bürgerbewegung. Sie zerbrach an der entscheidenden Frage, die mit dem Fall der Mauer unvermeidlich auf die Tagesordnung drängte: der nationalen Frage.
    Für die Berliner Führung des Neuen Forums, die am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz den Höhepunkt ihrer Bedeutung erklommen hatte, ging schon die Öffnung der Grenzen fünf Tage später einen Schritt zu weit. In die Euphorie des Mauerfalls hinein ermahnte sie die «Bürgerinnen und Bürger! Eure spontanen furchtlosen Willensbekundungen im ganzen Land haben eine friedliche Revolution in Gang gesetzt, haben das Politbüro gestürzt und die Mauer durchbrochen. Lasst Euch nicht von der Forderung nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! […] Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen. Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, lasst Euch jetzt nicht ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen.»
    Inhaltlich lag die Priorität des Neuen Forums als der nach wie vor prominentesten Oppositionsgruppe auf einer reformierten, eigenständigen DDR. In ihr sollte sich die Zivilgesellschaft einer bürgernahen und partizipatorischen Demokratie verwirklichen, die «Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft, deren Bürger nicht von staatlichen Zwängen, materiellen Eigeninteressen oder machtpolitischen Erwägungen korrumpiert sein sollten» (Karsten Timmer). Mit ihrer Kritik an Materialismus und Konsum orientierten sich weite Teile der Oppositionsbewegung gerade nicht am westlichen System im Zeichen politischer
und
wirtschaftlicher Freiheit, sondern suchten den «dritten Weg» eines reformierten, demokratisierten Sozialismus zwischen westlichem Kapitalismus und SED-Staatssozialismus, dessen konkrete Ausgestaltung freilich unbestimmt blieb.
    Drei Wochen nach dem großen Tag auf dem Alexanderplatz hatte sich die Welt in der DDR abermals grundlegend gewandelt, und so versuchten die Kräfte des 4. November noch einmal, die öffentliche Stimmung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Schriftsteller, Kirchenvertreter und andere Repräsentanten der Oppositionsbewegung erließen am 26. November den Aufruf «Für unser Land». Er beharrte auf der «Eigenständigkeit der DDR», um «eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. […] Oder wir müssen dulden, dass […] ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. […] Noch haben wir

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